Russische Raketenangriffe Experten sehen einen «Akt der Verzweiflung» Putins

Von Jill Lawless

11.10.2022

Russland überzieht Ukraine mit neuen Raketenangriffen

Russland überzieht Ukraine mit neuen Raketenangriffen

Russland hat bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine mehrere Regionen des Landes erneut mit Raketen und Kampfdrohnen beschossen.

11.10.2022

Die jüngsten russischen Luftangriffe auf die Ukraine sollen in ihrer Brutalität einschüchtern. Viele westliche Experten sind sich jedoch einig, dass der Effekt ausbleiben wird – und vor allem zeigen, dass Putin mit dem Rücken zur Wand steht.

Von Jill Lawless

Ziel sei gewesen, der Zivilbevölkerung noch mehr Leid zuzufügen – doch am Ende schade sich Putin damit wohl auch selbst. Einen Wendepunkt im Krieg sehen viele Beobachter in dem jüngsten Beschuss von mehreren ukrainischen Städten deswegen nicht.

Die Geschosse schlugen am Montag zum Teil inmitten von Wohngebieten ein. In vielen Regionen, in denen es mehrere Monate relativ ruhig gewesen war, wurden die Menschen brutal an die Realität des Krieges erinnert. Insofern ist die Entwicklung eine Eskalation. Ob sich damit aber an dem russischen Angriffskrieg, der schon Tausende Ukrainer das Leben gekostet und Millionen in die Flucht getrieben hat, auch grundlegend etwas ändert, ist fraglich.

Nach Darstellung des russischen Präsidenten Wladimir Putin waren die Raketenangriffe eine Vergeltung für «terroristische» Handlungen, unter anderem die Explosion auf der Krim-Brücke am Samstag. Die 19 Kilometer lange Brücke wurde 2018 eröffnet und ist die einzige Landverbindung zwischen Russland und der 2014 von Moskau annektierten Halbinsel. Putin bezeichnete die Explosion als «Terrorakt» und kündigte an, weitere Angriffe auf die Sicherheit Russlands würden eine «harte» Reaktion zur Folge haben.

Versuch «psychologischer und physischer Einschüchterung»

Aus Sicht von Simon Smith, einem ehemaligen britischen Botschafter in der Ukraine, waren die massiven russischen Angriffe vom Montag ein Versuch zur «psychologischen und physischen Einschüchterung» des Nachbarlandes – aber zugleich «ein Akt der Verzweiflung» eines russischen Anführers, dessen Truppen aus Gebieten im Osten der Ukraine zurückgedrängt würden, die der Kreml für annektiert erklärt habe. Putin stehe mit dem Rücken zur Wand, sagt Smith, der am Londoner Institut Chatham House das «Ukraine-Forum» leitet. «Er ist in der Defensive.»

Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, man habe «militärische Kommando- und Kommunikationseinrichtungen sowie Energie-Infrastruktur» ins Visier genommen. Kiew warf Russland dagegen vor, wahllos zivile Gebiete beschossen zu haben. Laut ukrainischen Behörden wurden 84 Raketen auf zehn Städte abgefeuert. Die Luftabwehr habe 56 der Raketen neutralisiert, hiess es. Trotzdem seien mehr als ein Dutzend Menschen getötet und mehr als 60 verletzt worden.

Durch ein Fernglas beobachtet Wladimir Putin ein Militärmanöver. (Archiv)
Durch ein Fernglas beobachtet Wladimir Putin ein Militärmanöver. (Archiv)
Alexei Nikolsky/Pool Sputnik Kremlin/dpa

«Russland versucht, die ukrainische Luftverteidigung zu überwältigen», sagte Justin Crump, Chef des auf Sicherheitsfragen spezialisierten Beratungsunternehmens Sibylline, dem britischen Sender BBC. «Das ist etwas, das sie bereits im gesamten Verlauf dieses Konflikts versucht haben, bisher aber nicht in diesem Ausmass.» Die Ukraine werde die Verbündeten im Westen nun wohl um weitere Boden-Luft-Raketen bitten, um sich künftig besser schützen zu können, fügte Crump hinzu.

«In gewisser Weise tun die Russen bereits das Schlimmste»

Der Militärexperte Michael Clarke, der als Gastprofessor am King’s College in London tätig ist, wertet die Angriffe vom Montag zwar als brutal, aber nicht als einen Wendepunkt im Krieg. «Denn in gewisser Weise tun die Russen bereits das Schlimmste», sagt er mit Blick auf die Massengräber und Hinweise auf Folter in den nach Monaten unter russischer Besatzung zurückeroberten Städten und Orten. Sie würden lediglich noch mehr Leid in der Zivilbevölkerung verursachen – und dabei die Entschlossenheit der Ukrainer festigen. «Und sie verlieren weiter an Boden», betont Clarke.

Zwei Tage vor den Raketenangriffen hatte Putin den General Sergej Surowikin zum Kommandeur aller russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannt. Surowikin hat im Laufe seiner Karriere unter anderem den russischen Einsatz in Syrien geleitet und soll dort für die brutale Zerstörung der Stadt Aleppo verantwortlich gewesen sein.

Sidharth Kaushal, Militärexperte am britischen Royal United Services Institute, erwartet aber auch durch die Ernennung Surowikins keine grundlegende Veränderung im russischen Angriffskrieg. Gegen den General gebe es Vorwürfe bezüglich «Korruption und Brutalität». Das könne womöglich als Hinweis darauf dienen, wie er die Sache angehen werde. «Brutal war das russische Vorgehen allerdings auch bisher schon», sagt er.

Kein «Game-Changer»

Moskau habe in diesem Krieg «eine ziemlich phänomenale Anzahl von Raketen eingesetzt», betont Kaushal. Deswegen sei ein künftiger Mangel an modernen Präzisionswaffen nicht auszuschliessen. Zugleich könnten die Russen aber noch auf grosse Mengen an gelagerten Überbleibseln aus der Sowjetzeit zurückgreifen und der Ukraine auch damit noch grossen Schaden zufügen. Laut Kaushal ist damit zu rechnen, dass «zumindest Teile der kritischen Infrastruktur der Ukraine, einige Dinge wie Stromnetze, im Laufe der Offensive noch zerstört werden».

Die Ukraine gibt sich derweil auch nach den jüngsten Raketenangriffen weiter entschlossen und kämpferisch. Zu der Explosion auf der Krim-Brücke hat sich Kiew bisher nicht offiziell bekannt. Der ukrainische Botschafter in London, Wadym Prystajko, bezeichnete die Brücke am Montag aber als ein legitimes militärisches Ziel. «Wir greifen nirgendwo zivile russische Infrastruktur an», sagte er dem Sender Times Radio. «Aber um zu siegen, müssen wir weiter und weiter vorstossen.»

Nach Einschätzung des Diplomaten Smith sind die Angriffe vom Montag zwar nicht als «Game-Changer» zu bewerten, wohl aber als eine neue Dimension des Krieges. «Wenn Putin weiss, dass die Entsendung von Hunderttausenden seiner Soldaten in die Ukraine zu einem totalen Reinfall werden würde, weil sie so schlecht geführt und schlecht ausgerüstet sind, dann wird er nach Wegen suchen, der Ukraine aus grösserer Distanz Tod und Zerstörung zu bringen», sagt er. «Die Staaten, die die Ukraine unterstützen, müssen sich überlegen, wie sie der Ukraine helfen können, sich dagegen zu verteidigen.»