Schin-Bet-Kritik Foltervorwürfe gegen Israel: «Er war nicht er selbst»

AP

11.2.2020

Mass verloren? Polizisten verhaften im Oktober 2019 in Jerusalem einen Mann.
Mass verloren? Polizisten verhaften im Oktober 2019 in Jerusalem einen Mann.
Bild: Keystone

Folter-Beschwerden gegen den israelischen Inlandsgeheimdienst bleiben meist ohne Konsequenzen. Nun erheben israelische und palästinensische Menschenrechtler die schwerwiegendsten Vorwürfe seit langem.

Ein Mann wird mit Nierenversagen und elf gebrochenen Rippen ins Krankenhaus eingeliefert. Ein anderer wird von seiner Frau fast nicht erkannt, als er im Rollstuhl in einen Gerichtssaal gebracht wird. Ein dritter muss nach Bissen eines Wachhundes genäht werden.

Alle drei Palästinenser waren vom israelischen Geheimdienst Schin Bet verhört worden – nachdem im August eine Bombe im Westjordanland eine 17-jährige Israelin getötet und ihren Vater und ihren Bruder verletzt hatte.

Der Anschlag hatte Befürchtungen vor einem weiteren Anschlag einer militanten Zelle geweckt – die israelischen Ermittler werteten dies wohl als tickende Zeitbombe. Nach Angaben von Anwälten und Familienmitgliedern wurden die drei Hauptverdächtigen so stark gefoltert, dass sie zum Teil mehrere Wochen im Krankenhaus verbrachten.

Mehrere andere festgenommene Palästinenser wurden im Gewahrsam des Schin Bet nach eigenen Angaben bedroht, geschlagen, in schmerzhafte Stresspositionen gezwungen und Schlafentzug ausgesetzt.

Die Anschuldigungen gegen Israel sind die schwerwiegendsten seit Jahren, die bekannt wurden. Menschenrechtlern zufolge deuten sie auf eine Lockerung der Auflagen hin, obwohl der Oberste Gerichtshof Israels in einem richtungsweisenden Urteil 1999 die meisten Formen von Folter verboten hat.

Kaum Konsequenzen

Gesetzlich ist es Vernehmungsbeamten erlaubt, Gewalt anzuwenden, wenn ein Anschlag unmittelbar befürchtet wird. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen nutzen die israelischen Verhörspezialisten dies routinemässig aus, weil sie kaum Konsequenzen fürchten müssen.

Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation Public Committee Against Torture wurden seit 2001 mehr als 1’200 Beschwerden über Schin Bet registriert, ohne dass auch nur ein einziger Fall vor Gericht gelangte. Nur in einem Fall mit einer mutmasslichen Vergewaltigung 2017 wurden Ermittlungen aufgenommen, das Ergebnis steht noch aus.

Die Foltervorwürfe kommen zu einem heiklen Zeitpunkt: Vor kurzem hat US-Präsident Donald Trump seinen Nahost-Plan veröffentlicht, der Israel stark begünstigt. Die Palästinenser lehnten den Plan ab, und in den vergangenen Tagen kam es zu sporadischen Zusammenstössen im Westjordanland.

Verhöre hätten Anschläge vereitelt

Die vom Westen unterstützte Palästinensische Autonomiebehörde, die ebenfalls der Folter von Gefangenen beschuldigt wird, reagierte auf Trumps Nahost-Plan mit der Drohung, ihre langjährige Sicherheitskoordination mit Israel zu beenden. Die aktuellen Foltervorwürfe gegen Israel könnten den Druck auf die Autonomiebehörde noch erhöhen, diese Drohung umzusetzen.

Schin Bet hatte nach dem Tod der 17-Jährigen bei dem Bombenanschlag am 23. August grossangelegte Razzien gestartet. Die Behörden machten die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) für den Anschlag verantwortlich, eine linksgerichtete Partei mit militantem Flügel. In den folgenden Wochen nahmen Sicherheitskräfte Dutzende ihrer Mitglieder fest.

Schin Bet identifizierte einen 44-Jährigen als Bombenbauer, einen 22-Jährigen als Helfer bei diesem und anderen Anschlägen und einen 51-Jährigen als ranghohen Kommandanten im bewaffneten Flügel der Organisation. Die Verhöre hätten bei der Vereitelung von Anschlägen in «naher Zukunft» geholfen und die Behörden zu Waffenverstecken geführt, hiess es.

Nach dem Spital wieder zum Geheimdienst

Konkrete Foltervorwürfe wollte der Geheimdienst nicht kommentieren. Er betonte lediglich, dass «Verhöre in Übereinstimmung mit dem Gesetz geführt werden und darauf zielen, den Staat Israel und seine Bürger vor Terroranschlägen zu schützen».

Nur Tage nach seiner Verhaftung im September wurde der 44-Jährige in kritischem Zustand in ein Krankenhaus gebracht. Laut Sahar Francis, Vorsitzende der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Addamir und Anwältin der Verdächtigen, wurde er über 36 Stunden geschlagen, bis die Nieren versagten und elf Rippen brachen. Nach drei Wochen wurde er aus dem Krankenhaus entlassen – und wieder an den Schin Bet überstellt.

Der Geheimdienst hatte damals mitgeteilt, der Verdächtige habe sich während des Verhörs «nicht wohlgefühlt» und sei ins Krankenhaus gebracht worden. Nach israelischen Medienberichten ermittelt das Justizministerium. Dieses äusserte sich auf Anfrage nicht dazu.

Eigenen Mann nicht erkannt

Auch die anderen beiden wurden nach Angaben Francis' schwer geschlagen. Die Frau des 51-Jährigen gab an, sie habe ihn kaum wiedererkannt, als sie ihn 60 Tage nach seiner Festnahme sah. «Er wurde in einem Rollstuhl ins Gericht gebracht», sagt sie. «Er sah sehr alt aus, sein Bart war an mehreren Stellen herausgerissen und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er war nicht er selbst.»

Francis teilte Fotos des Mannes, die demnach zehn Tage nach seinem Verhör aufgenommen wurden. Sie zeigen offenbar grosse rote Blutergüsse an seinen Beinen, Füssen und Schultern. Der 22-jährige dritte Verdächtige wurde bei einer Razzia der Sicherheitskräfte in seinem Haus nahe Ramallah von einem Wachhund in die Genitalien gebissen, sagte Francis: «Als er aus dem Krankenhaus zum Verhör zurückgebracht wurde, schlugen die Vernehmungsbeamten auf seine Wunden.»

Nach Ansicht von Rachel Stroumsa, Geschäftsführerin des Public Committee Against Torture in Israel, sind die Vorwürfe glaubwürdig und stimmen mit anderen Zeugenaussagen überein, die ihre Organisation gesammelt hat.

Rund 50 Palästinenser gefoltert

Nach Informationen der palästinensischen Organisation Addamir wurden auch mehrere andere Verdächtige in einer Weise misshandelt, die von internationalen Menschenrechtlern als Folter eingestuft wird. Insgesamt seien etwa 50 Palästinenser nach dem Bombenanschlag in irgendeiner Form gefoltert worden.

Auch der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Teile des Westjordanlandes kontrolliert, sowie der im Gazastreifen regierenden islamistischen Hamas werden Folter politischer Gefangener vorgeworfen. Menschenrechtlern zufolge sind solche Misshandlungen auch in anderen Ländern der Region wie Syrien und Ägypten verbreitet.

Im Dezember lobte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu Inlandsgeheimdienst, Armee und Polizei für die Festnahme der «verachtenswerten Terroristen», die die 17-Jährige ermordet hätten: «Der lange Arm Israels erwischt all jene, die uns nach dem Leben trachten, und er wird dies auch weiterhin tun.»

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