EuropaFrontex unter Beschuss: Der Druck auf die EU-Grenzschutztruppe wächst
SDA
7.2.2021 - 12:13
Erhabene Streicher, treibendes Schlagzeug und ein Mann, der eifrig salutiert – mit reichlich Pathos präsentiert die EU-Grenzschutzagentur Frontex ihre neue Uniform. Dabei war der Auftritt der EU-Behörde mit Sitz in Warschau zuletzt gar nicht erhaben. Einem Problem folgte das nächste.
Von Grundrechtsverstössen ist die Rede, von Mobbing und massiven Pannen beim Personalaufbau. Die EU-Betrugsbehörde Olaf ermittelt, nicht wenige fordern den Rücktritt von Behördenchef Fabrice Leggeri. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson macht Druck. Und nun hat auch noch Satiriker Jan Böhmermann die Agentur in den Fokus genommen. Wie konnte es so weit kommen?
Eigentlich ist Frontex so etwas wie das Lieblingskind der EU-Staaten. Wo Ungarn und Luxemburg, Italien und Österreich seit Jahren über eine Reform der Migrations- und Asylpolitik streiten, sind sich zumindest in einem alle einig: Die Aussengrenzen müssen mehr geschützt werden.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei Frontex zu. Bis 2027 soll die Behörde von ehemals rund 1500 Beamten auf eine ständige Reserve mit bis zu 10 000 Beamten ausgebaut werden. Auch neue Kompetenzen sind hinzugekommen – etwa bei Abschiebungen und der Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Innenminister Horst Seehofer (CSU) betont immer wieder, wie wichtig Frontex sei. Europa, eine Festung – diese Erzählung verfestigte sich zuletzt immer mehr.
Frontex hat an den europäischen Aussengrenzen allerdings auch unter dem neuen Mandat von 2019 nicht das Sagen, sondern soll die nationalen Behörden bei ihrer Arbeit unterstützen – mit Personal, mit Wissen, mit Technik, mit Equipment. Doch die Rolle, die Frontex dabei übernimmt, gerät immer mehr in die Kritik.
Im August 2019 berichteten mehrere Medien, dass die Behörde Menschenrechtsverletzungen durch nationale Beamte an den EU-Aussengrenzen in Bulgarien, Griechenland oder Ungarn hingenommen habe. Im Oktober 2020 folgten ähnliche Berichte des «Spiegel» und anderer Medien: Griechische Grenzschützer haben Schlauchboote mit Migranten an Bord demnach rechtswidrig in Richtung Türkei zurückgetrieben (Pushback) – und Frontex-Beamte waren teils in der Nähe. Interne Meldewege für derlei Vorfälle funktionierten unzureichend.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR fordert deshalb eine bessere Überwachung möglicher Grundrechtsverletzungen. Man sei beunruhigt und alarmiert über die Zunahme von Pushback-Berichten, sagte die deutsche UNHCR-Vertreterin Katharina Lumpp der Deutschen Presse-Agentur. Auch der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt dringt auf mehr Einsicht in Unterlagen für das EU-Parlament sowie eine schärfere interne Prüfung durch die EU-Staaten. «Frontex braucht Mechanismen, bei denen Vorfälle nicht verdeckt werden, bei denen Ungereimtheiten aufgedeckt werden und nicht hingenommen», sagte Marquardt der dpa.
Zum Missfallen vieler ist das Frontex-Krisenmanagement bisher alles andere als transparent. Leggeri agiert nach dem Motto: Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Im Europaparlament wies er die Pusback-Vorwürfe entschieden zurück – man habe keine Beweise dafür gefunden. Etliche Abgeordnete fordern seinen Rücktritt.
Auch im Interview mit dem französischen Radiosender Europe 1 lässt Leggeri am Freitag Fragen offen. Immer wieder spricht er von einer «Metamorphose», die seine Agentur gerade aufgrund des immensen Ausbaus durchmache. Mit Blick auf die Pushback-Vorwürfe etwa in der Ägäis betont er, dass Frontex auch Menschenschmuggel bekämpfe. Es müsse sichergestellt sein, dass die Menschen auf Booten nicht Opfer von Schmugglern seien. Die Boote würden teils umgeleitet, um sie kontrollieren zu können. Wer einen Asylantrag stellen wolle, könne das natürlich tun. Doch könne er, Leggeri, versichern, dass Frontex stets legal gehandelt habe? «Das ist ganz und gar unser Anliegen.»
Selbst der Frontex-Verwaltungsrat aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission hält die Aufarbeitung für unzureichend. Eine interne Arbeitsgruppe sollte die Pushback-Vorwürfe aufklären. Doch der vertrauliche Bericht, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, lässt schwere Mängel erkennen: Fünf von 13 untersuchten Fällen wurden nicht ausgeräumt und bedürfen weiterer Untersuchung. Zum Teil seien die von Frontex bereitgestellten Informationen unzureichend. Für einen kompletten Bericht hat der Verwaltungsrat eine neue Frist Ende Februar gesetzt. Auch sollen interne Prozesse überarbeitet werden.
Das Europaparlament will sich all das nicht mehr bieten lassen. Kürzlich entschied der Innenausschuss, eine neue Arbeitsgruppe einzurichten, die vor allem mögliche Grundrechtsverletzungen unter die Lupe nehmen soll.
Lucas Rasche, Wissenschaftler an der Berliner Denkfabrik Jacques Delors Centre, beschäftigt sich seit Jahren mit der EU-Migrations- und Asylpolitik. Er sieht für das Frontex-Dilemma vor allem zwei Gründe: Seit 2016 sei die Behörde zu einer Art Super-Agentur mit mehr Budget, mehr Personal und mehr Kompetenzen aufgestockt worden. Dabei habe man jedoch verpasst, auch Kontroll- und Transparenzmechanismen auszubauen. «Das wird umso klarer, je mehr Verantwortung die Agentur übernimmt», sagt Rasche. Zugleich spiele sich das alles in einem bestimmten politischen Klima ab.
Rasche erinnert etwa an den März 2020, als die Türkei die Grenzen zur EU für Geflüchtete für offen erklärte und griechische Beamte die Migranten teils gewalttätig abwehrten. Das Grundrecht, einen Asylantrag stellen zu dürfen, setzte Athen zeitweise aus – und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland als «europäisches Schild». «Die Verwicklungen von Frontex in Pushbacks sind dann eine Fortsetzung dieser Politik», sagt Rasche. Die EU versuche mit verstärktem Grenzschutz zu kaschieren, dass sie sich seit Jahren nicht auf ein funktionierendes Asylsystem einigen könne.
Doch der Druck ist nicht nur wegen der Pushback-Berichte hoch. Im Januar wurde bekannt, dass die EU-Behörde Olaf gegen Frontex ermittelt. Zu den Hintergründen schweigen sich zwar beide Seiten aus. Das Magazin «Politico» verwies aber unter Berufung auf EU-Beamte auf «Vorwürfe von Belästigung, Fehlverhalten und Migranten-Pushbacks».
Der «Spiegel» berichtete am Freitag, neben den Pushback-Vorwürfen gehe es unter anderem auch um einen möglichen Betrugsfall, um Mobbingvorwürfe «und die Frage, ob der Grundrechtsbeauftragten der Agentur Informationen vorenthalten wurden». Frontex bestreitet die Vorwürfe. Im Dezember schaltete sich wegen der Beschwerden über mögliche Grundrechtsverletzungen auch noch die europäische Bürgerbeauftragte ein; auch der Europäische Rechnungshof untersucht, ob Frontex die Grenzverwaltung der EU wirksam unterstützt.
Jan Böhmermann befasst sich in der aktuellen Ausgabe seines ZDF-"Magazin Royale» ebenso mit Frontex. Für ihn ist die Agentur «unsere ein bisschen ausserhalb von Recht und Gesetz stehende europäische Grenzmiliz».
Ermittlungen und Vorwürfe von allen Seiten. Um sich nicht noch angreifbarer zu machen, setzte die Agentur zuletzt ihren Einsatz in Ungarn aus. Der Europäische Gerichtshof hatte zuvor weite Teile des ungarischen Asylsystems für rechtswidrig erklärt.
Doch auch bei der Personalaufstockung hakt es. EU-Innenkommissarin Johansson macht ihrem Unmut mittlerweile ziemlich deutlich Luft: «Wir können sehen, dass noch viele Dinge fehlen, die eigentlich vorhanden sein sollten», sagte die Schwedin kürzlich. Sie zählte auf, dass unter anderem drei Vertreter Leggeris und 40 Grundrechte-Überwacher fehlten. Dass das so nicht geht, machte sie dem Frontex-Chef zuletzt am Donnerstag bei einem persönlichen Treffen in Brüssel klar.
Ein Frontex-Sprecher verweist mit Blick auf die Personalfrage hingegen darauf, dass Corona das ohnehin herausfordernde Vorhaben – den Ausbau der Agentur – noch komplizierter gemacht habe. Alles in allem sei das Projekt aber in der Spur.
Der Druck nimmt zu. Leggeri ist noch im Amt. Ändern könnte das nur der Verwaltungsrat auf Vorschlag der EU-Kommission. Johansson sagte der dpa noch am Freitag, die jüngsten Medienberichte seien besorgniserregend. Leggeri und der Verwaltungsrat hätten eine grosse Verantwortung, die Situation zu verbessern. «Die Erwartungen sind hoch.»
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