Schlimmer als zuvor Geflüchtete auf Lesbos – Matsch, Krätze, Hoffnungslosigkeit

dpa/tafi

23.12.2020 - 00:00

Das «UNICEF-Foto des Jahres 2020» zeigt Kinder, die aus dem brennenden Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos fliehen. Vor gut 100 Tagen wurde das Lager zerstört: Die Situation der Geflüchteten im provisorischen Lager Kara Tepe soll noch schlimmer sein als in Moria.
Das «UNICEF-Foto des Jahres 2020» zeigt Kinder, die aus dem brennenden Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos fliehen. Vor gut 100 Tagen wurde das Lager zerstört: Die Situation der Geflüchteten im provisorischen Lager Kara Tepe soll noch schlimmer sein als in Moria.
Angelos Tzortzinis, Griechenland/AFP via UNICEF Deutschland/dpa

Nach jedem Regen versinken Zelte im Schlamm, Strom gibt es nur mit Glück, Toiletten sind Mangelware: Gut 100 Tage nach dem Grossbrand des Flüchtlingslagers Moria kämpfen Helfer gegen den Winteranfang. Und gegen die Gleichgültigkeit Europas.

Moria ist abgebrannt – Bilder von Kindern, die aus den brennenden Flüchtlingslagern fliehen, gingen um die Welt. Eines der Bilder wurde gerade als «UNICEF-Foto des Jahres 2020» ausgezeichnet. Das Bild des griechischen Fotografen Angelos Tzortzinis halte die Tapferkeit, Fassungslosigkeit und Hilfsbereitschaft von Kindern angesichts höchster Not in einer bewegenden Momentaufnahme fest, erklärte das UN-Kinderhilfswerk.

«Das Bild konfrontiert uns mit unserer Menschenpflicht: Wir in Europa müssen endlich eine Antwort finden – auch für die Kinder von Moria. Wir müssen gemeinsam mehr tun, um auch in ihr Leben Hoffnung zu bringen», sagte die UNICEF-Schirmherrin Elke Büdenbender. Das Foto sei «eine eindringliche Mahnung», so die Ehefrau des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier.

Die Hoffnung so mancher auf ein Ende des Elends der Migranten und Flüchtlinge auf Lesbos wird sich wohl so schnell nicht erfüllen. Im neuen, provisorischen Lager auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Kara Tepe (griechisch: Mavrovouni) hausen rund 7500 Menschen, darunter viele Kinder, Schwangere und Kranke. Sie teilen sich 400 Toilettenhäuschen, die bei Stürmen auch mal umfallen, sowie 200 Duschen, nur ein paar wenige mit warmem Wasser.

Hilfsorganisationen warnen immer wieder: Kara Tepe sei noch schlimmer als das Lager Moria, das vor gut 100 Tagen bei einem Grossbrand zerstört wurde und als Symbol für das Scheitern der europäischen Asylpolitik galt. Doch die Appelle bleiben weitgehend ungehört.

«Corona ist die geringste Sorge»

Das Zeltlager Mavrovouni sei aktuell mit winterfesten Zelten ausgestattet, sagte kürzlich das deutsche Innenministerium. Wie winterfest, beschreibt eine Ärztin der Nachrichtenagentur dpa: Regnete es, entstehe eine Schlammwüste samt Flüssen und Seen. Das Lager liegt direkt am Meer und sei damit Sturmböen ausgesetzt, die Planen mit sich rissen und Zelte zerstörten. Helfer kämpften darum, die Zelte wenigstens mit Holzpaletten zu unterbauen, damit sie beim nächsten Regen nicht von Matsch überschwemmt würden.



Ihren Namen möchte die Ärztin lieber nicht nennen. Ein neues Gesetz der griechischen Regierung verbietet es Helfern in Flüchtlingslagern, mit Medien über Missstände zu sprechen, wie die Organisation Reporter ohne Grenzen kritisiert. Fotografen haben keinen Zutritt mit der Begründung, sie könnten Corona in das Lager einschleppen. «Aber Corona ist hier noch die geringste Sorge. Bei all dem, was die Menschen im Camp überleben, ist es nicht Corona, das der Gesundheit zu schaffen macht», sagt die Ärztin.

Es sind vielmehr die unzureichende Versorgung und die Aussichtslosigkeit. Mangels Waschmöglichkeiten seien Krätze und Läuse allgegenwärtig, behandelt würden häufig offene Wunden, Abszesse, Durchfall- und Atemwegserkrankungen sowie Gelenkschmerzen, die sich wegen der Feuchtigkeit und schlechter Schlafstätten einstellen. «Die Lebensbedingungen hier machen krank», sagt die Medizinerin.

Unerträgliche Zustände

Die griechische Regierung wehrt sich gegen Vorwürfe: So seien etwa Berichte über Rattenbisse bei Babys erfunden, die Medien verzerrten die Realität, gerade erst habe Migrationsminister Notis Mitarakis das Camp mit Lokaljournalisten besucht, teilte das Migrationsministerium am Montag mit. Es gebe Probleme, doch die würden angegangen, die gesundheitliche Versorgung werde vom Roten Kreuz und anderen Organisationen abgedeckt.



Vorfälle mit Babys und Ratten kann auch die deutsche Ärztin nicht bestätigen, doch die medizinische Versorgung befinde sich auf allerniedrigstem Niveau, sagt sie. Jeden Tag müssten Patienten weggeschickt werden, schon morgens um sechs stünden die Menschen an. «Hinzu kommen psychische Probleme, da haben wir die ganze Bandbreite, darunter regelmässig Suizidversuche.»

Auch zu Gewaltausbrüchen kommt es immer wieder – vergangene Woche soll im Lager ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt worden sein, wie SOS-Kinderdörfer mitteilten. Es herrscht Angst. «Nachts ist es hier stockdunkel, die Frauen trauen sich nicht aus den Zelten, um auf Toilette zu gehen», sagt die Ärztin. Denn Strom, erklärt sie, gebe es nur per Generator und dann nur ein, zwei Stunden am Tag.

Neues Lager geplant

Und all das, obwohl Griechenland in den vergangenen fünf Jahren laut der EU-Kommission umgerechnet mehr als drei Milliarden Franken aus EU-Töpfen für das Migrationsmanagement bekommen hat. Fragt man die Brüsseler Behörde, ob sie mit den Zuständen in Kara Tepe zufrieden sei, heisst es, die Bedingungen blieben «sehr schwierig». Man arbeite aber intensiv an einer dauerhaften Lösung.

So hat die Behörde Anfang Dezember eine Absichtserklärung mit Griechenland unterschrieben, dass bis September 2021 ein neues, dauerhaftes Lager auf Lesbos entstehen soll. So lange müssen die Menschen wohl weiter im Übergangslager wohnen.

Die EU-Kommission betont, nach dem Moria-Brand sei Kara Tepe in «Rekordzeit» aus dem Boden gestampft worden und habe alle obdachlos gewordenen Menschen aufnehmen können. Dies sei damals absolute Priorität gewesen. Derzeit arbeite man mit den griechischen Behörden und anderen Organisationen daran, die Bedingungen zu verbessern.

Bis September 2021 soll ein neues, ein Vorzeige-Lager, auf Lesbos entstehen – unter Mitwirkung der EU-Kommission und mehrerer EU-Behörden. Derzeit werde ein Standort gesucht, heisst es.

Entstehen soll ein Lager mit Bereichen zum Wohnen, für Neuankömmlinge, für die medizinische Versorgung und zur Erholung – etwa für Sport oder zum Spielen. In Fertighäusern sind Bildungsangebote geplant – aber auch ein Haftbereich. Anstelle der abschreckenden Wirkung von Camps wie Moria oder Kara Tepe sollen hier Asylverfahren und Rückführungen zügig durchgeführt werden.

Solidarität verhalten

Die oft beschworene europäische Solidarität zeigte sich nach dem Moria-Brand zunächst nur verhalten. Erst nach einigen Tagen erklärten sich zehn europäische Länder bereit, 400 Minderjährige aus Griechenland aufzunehmen – darunter die Schweiz. Weitere folgten im Laufe der Wochen. Mit Stand 23. November habe es Angebote für knapp 2700 Umsiedlungen von der Insel Lesbos gegeben, heisst es aus der EU-Kommission. In der Schweiz wären etliche Kantone und Kommunen bereit, deutlich mehr Menschen als bislang aufzunehmen.



«Ich kenne solche Zustände aus Afrika, aus Südamerika – aber das hier ist Europa», bilanziert die deutsche Medizinerin. Für junge Europäer sei die Situation extrem frustrierend, dass in ihrer zivilisierten Staatengemeinschaft solch ein Lager möglich sei. «Eigentlich sollte die ganze europäische Chefetage mal eine Woche hier im Camp leben und in Zelten schlafen, damit die wissen, wie das ist.»

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dpa/tafi