Tschechien Hunderttausende protestieren in Prag

SDA

16.11.2019 - 18:51

Sehen die Errungenschaften der Samtenen Revolution von 1989 in Gefahr und attackieren Regierungschef Babis als aus ihrer Sicht korrupt und kriminell: die über 200'000 Demonstranten im Letna-Park in Prag.
Sehen die Errungenschaften der Samtenen Revolution von 1989 in Gefahr und attackieren Regierungschef Babis als aus ihrer Sicht korrupt und kriminell: die über 200'000 Demonstranten im Letna-Park in Prag.
Source: KEYSTONE/EPA/MARTIN DIVISEK

Unmittelbar vor dem 30. Jahrestag der Samtenen Revolution ist es in Prag zu Protesten gegen die Regierung gekommen. Hunderttausende Menschen nahmen am Samstag an einer Grosskundgebung auf der weitläufigen Letna-Ebene über der Moldau teil.

Die Veranstalter vom Bündnis «Eine Million Augenblicke für Demokratie» sprachen von einer Viertelmillion Teilnehmern. Die Polizei bestätigte die Teilnehmerzahl. Bei der Kundgebung wurde der Rücktritt von Ministerpräsident Andrej Babis gefordert. Der 65 Jahre alte Multimilliardär missbrauche seine Macht und stehe als Unternehmer und Politiker in einem ständigen Interessenskonflikt.

Seit Ende April gibt es in Prag und anderen Städten in Tschechien immer wieder Kundgebungen gegen Babis. Er war laut Unterlagen der kommunistischen Geheimpolizei in den 1980er Jahren einer ihrer Mitarbeiter. Auch dies bestreitet Babis. Zuletzt hatten im Juni rund 250'000 Tschechen auf einer Demonstration in Prag seinen Rücktritt gefordert.

Die Niederschlagung einer friedlichen Studentendemonstration am 17. November 1989 hatte den Beginn der sogenannten Samtenen Revolution, der demokratischen Wende in der damaligen Tschechoslowakei, markiert.

Babis hatte den Demonstranten im Vorfeld vorgeworfen, die «Atmosphäre des Jahrestags» zu missbrauchen. Ihre Beweggründe verstehe er nicht. Der gebürtige Slowake steht an der Spitze einer Minderheitsregierung aus seiner populistischen Partei ANO (Tschechisch für «Ja») und der sozialdemokratischen CSSD, die von den Kommunisten (KSCM) geduldet wird.

«Die Demokratie in Tschechien ist krank»

Die Demokratie in Tschechien sei krank, sagt der Organisator der Proteste, der Theologiestudent Mikulas Minar. Sie sei wie ein Garten, der mit Unkraut zuwuchere, wenn man sich nicht um ihn kümmert. Im Mittelpunkt der Kritik: Regierungschef Babis. Der Multimilliardär ist Gründer eines komplizierten Firmengeflechts, das von der Agrarwirtschaft über die Chemieindustrie bis zur Medienbranche reicht.

Vor wenigen Wochen stellte die Staatsanwaltschaft zwar ihre Ermittlungen gegen Babis wegen mutmasslichen Missbrauchs von EU-Fördergeldern ein, doch es stehen noch endgültige Prüfberichte der EU-Kommission aus. «Die Korruption ist gross», sagt eine Demonstrantin. «Wir wollen nicht schweigen», sagt eine andere.

Der Prager Weihbischof Vaclav Maly, einer der führenden Vertreter der Wende-Bewegung von 1989, kritisiert, dass der Fall nicht vor Gericht kommt. Die undurchsichtige Finanzierung des Firmengeflechts müsse objektiv geprüft werden, sagte der 69-Jährige der Nachrichtenagentur dpa. Vor 30 Jahren hatte Maly die Massendemonstrationen gegen die CSSR-Führung moderiert.

Viele Tschechen fragen sich mittlerweile: Was ist schiefgelaufen seit der Samtenen Revolution von 1989? «Sie haben geglaubt, dass die Menschen automatisch auch bessere Menschen werden, wenn es ihnen wirtschaftlich besser geht, aber das steht in keinem direkten Verhältnis», meint Weihbischof Maly.

Kommunisten noch immer ein Machtfaktor

Umso wichtiger sei es, heute Wert auf die moralische Seite des Lebens und auf politische Kultur zu legen – und die Stimme der Bürger zu hören. Ihn stört auch, dass sich die Babis-Minderheitsregierung auf die Tolerierung durch die Kommunisten stützt. Dabei habe sich die Partei nie kritisch mit ihrem Verhalten in den Jahren 1948 bis 1989 auseinandergesetzt.

Der Politiker und Senatsabgeordnete Jiri Dienstbier, der Sohn des Dissidenten und späteren Aussenministers gleichen Namens, war damals als einer der Studentenanführer dabei. Es habe etwas in der Luft gelegen, der Wunsch nach Veränderung, erinnert sich der heute 50-Jährige an die damalige Atmosphäre. Menschen hätten aus dem Fenster zugewinkt oder sich spontan der Demonstration angeschlossen.

Dann drängten Bereitschaftspolizisten die Demonstranten auf der Nationalallee in eine Ecke, schlugen mit Gummiknüppeln auf sie ein. «Das war selbstverständlich ein Schock, die Menschen hatten Panik», erinnert sich Dienstbier. Doch die Teilnehmer der Demonstration hätten einander zugerufen: «Wir kommen wieder!»

Errungenschaften von 1989 in Gefahr

Die Macht der Strasse war nicht mehr aufzuhalten. Am 26. November 1989 reichten sich der Bürgerrechtler und Dramatiker Vaclav Havel und der kommunistische Ministerpräsident Ladislav Adamec am runden Tisch die Hand. Havel wurde Präsident, im Sommer 1990 gab es freie Wahlen – die Beteiligung lag bei mehr als 95 Prozent.

Manche der Errungenschaften von damals wie die Rückkehr zu europäischen Werten, die Achtung der Menschenrechte und der spätere EU-Beitritt würden heute in manchen Kreisen wieder in Zweifel gezogen, bedauert Dienstbier.

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