Frauen berichten aus Afghanistan«Ich fühle mich wie eine Gefangene»
Von Anne Funk
22.8.2021
Die Taliban haben die Kontrolle über Afghanistan übernommen. Besonders für die weibliche Bevölkerung hat das gravierende Folgen. «blue News» konnte mit zwei Frauen aus Kabul sprechen.
Von Anne Funk
22.08.2021, 11:05
Anne Funk
Seit vergangenem Sonntag haben die Taliban in Afghanistan faktisch die Macht im ganzen Land übernommen. Der Eroberungszug erfolgte in erschreckendem Tempo. Während die Welt in Sorge auf das Land blickt, in dem sich die Taliban 20 Jahre lang mehr oder weniger versteckt und bereithielten, leben viele Afghan*innen nun in grosser Angst. Angst vor allem davor, dass sich die Schreckensherrschaft der 1990er-Jahre wiederholt.
Besonders Frauen litten damals unter den Taliban und waren vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Mit der erneuten Machtübernahme scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Auch wenn Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag versicherte, man werde sich für die Rechte der Frauen einsetzen, bestehen begründete Zweifel daran.
«blue News» konnte mit zwei afghanischen Frauen über die aktuelle Lage vor Ort und die Situation der weiblichen Bevölkerung sprechen. Aus Sicherheitsgründen möchten beide anonym bleiben, die Namen wurden von der Redaktion geändert.
«Die Taliban sind überall»
«Das Leben ist nicht normal im Moment», erklärt Liah. Die Frau lebt mit ihren Verwandten in Kabul. Alle Regierungsstellen, Banken, NGOs und einige Geschäfte seien geschlossen. Geöffnet seien nur einige Lebensmittelgeschäfte und Bäckereien, die zum Überleben notwendig sind.
«Die Lage ist schlimm. Alle Menschen bleiben zu Hause. Die Taliban sind überall», berichtet auch Samira, die mit ihrer Familie in Dasht-e-Barchi im Westen Kabuls lebt. Lediglich einige alte Männer und Frauen gingen Lebensmittel einkaufen, wobei die Frauen lange Gewänder und Hidschab tragen.
Auch Samira kann bestätigen, dass es definitiv keinen normalen Alltag in Afghanistan gibt, der Schrecken, den die Besetzer verbreiten, ist allgegenwärtig. «Ich habe Angst vor den Taliban», berichtet sie. «Sie kommen und sie gehen, auf der Strasse und in der Nähe unseres Hauses, mit Waffen und Motorrädern.» Es sei schrecklich, das zu sehen. «Ich bin seit vier Tagen zu Hause, ich fühle mich wie eine Gefangene.»
Die Machtübernahme durch die Islamisten sei für beide Frauen sehr überraschend gekommen. Liah aus Kabul habe nicht erwartet, dass die Taliban die Hauptstadt so schnell und ohne Gegenwehr einnehmen könnten. «Ich besitze nicht einmal einen Hidschab.» Mit ihrer Eroberung hatten die Taliban verkündet, dass Frauen verpflichtet seien, den islamischen Hidschab zu befolgen. Dazu zählt nicht nur die Verhüllung in der Öffentlichkeit, sondern ausserdem lediglich eine Zugänglichkeit für die Männer, die in einem die Heirat ausschliessenden Verhältnis zu der Frau stehen.
Auch Samira hatte eine solch schnelle Eroberung nicht erwartet. «Ich war im Büro als meine Kollegin sagte, die Taliban würden kommen und Dasht-e-Barchi übernehmen.» Viele Mitglieder ihrer Familie hätten sie dann angerufen und aufgefordert, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
«Ich hatte Angst – denn ich trug meine normale Kleidung.» Samira versuchte verzweifelt ein Geschäft zu erreichen, um ein langes Gewand kaufen zu können. Als sie endlich eines fand, das noch geöffnet hatte, kaufte sie gleich einige für ihre Kolleginnen mit. «Alle Menschen hatten Angst, wir bekamen kein Auto», schildert Samira ihre fluchtartige Heimkehr aus der Arbeit. Ihr Zuhause erreichte sie zusammen mit ihrer Kollegin, indem sie zu Fuss ging.
«Den Menschen geht es mental nicht gut», beschreibt Samira die Lage vor Ort. Sie selbst sei depressiv und könne nachts nicht mehr schlafen. Stets müsse sie über ihre Familie und die Zukunft ihrer Schwestern nachdenken.
Fortschritt, der nun zerstört wird
Liah sieht in der Übernahme der Kontrolle in Afghanistan einen klaren Rückschritt um 20 Jahre. «Frauen dürfen ohne Burka und männlichen Begleiter nicht vor die Tür. Mädchen dürfen ihr Studium nicht fortsetzen und Mädchenschulen wurden im ganzen Land geschlossen.»
Als die Taliban vor zwei Jahrzehnten das Land verlassen hatten, waren Verbesserungen sichtbar – allerdings weniger deutlich als vermutet, betont Liah. «In abgelegeneren Gegenden wurden die Rechte der Frauen nicht respektiert», erklärt sie. Eine Ausbildung wurde ihnen nicht zugestanden, einige wurden von ihren Familien zwangsverheiratet.
Doch auch das bisschen erreichter Fortschritt scheint nun Vergangenheit zu sein. «Der 15. August ist ein schwarzer Tag in der Weltgeschichte, insbesondere für Frauen in Afghanistan», blickt Liah düster in die Zukunft. «Alles, was sie erreicht haben, all die Verbesserungen, die sie in den letzten 20 Jahren erfahren haben, werden ihnen nun genommen.» Stattdessen müssen sie zu Hause bleiben und es ist ihnen nicht erlaubt, arbeiten zu gehen.
Sie hoffe allerdings, dass die Taliban ihre Meinung und Pläne ändern und zulassen werden, dass Frauen sich weiterentwickeln und ihre Lage verbessern dürfen. Das sieht Samira anders: Der Aussage Mudschahids, man werde sich für die Rechte der Frauen einsetzen, schenkt sie wenig Glauben. «Die Meinung der Taliban über Frauen wird sich niemals ändern.»
«Wir alle sind in Gefahr»
Viele Menschen versuchen nun, das Land zu verlassen, um einer erneuten Schreckensherrschaft zu entkommen. Für Liah ist das aktuell keine Option. «Für mich gibt es gerade keine Chance, Afghanistan zu verlassen.» Sollte sich allerdings eine Gelegenheit auftun, würde sie ihrer Heimat den Rücken kehren. «Denn Afghanistan unter der Kontrolle der Taliban ist nicht der Ort, an dem sich Frauen entwickeln können und wo sie gefördert werden.»
Ähnlich geht es Samira: Besonders zum Wohle ihrer Familie will sie hinaus aus Afghanistan, wenn sich die Möglichkeit für sie bietet. Samira und ihre Schwestern verkörpern die Verbesserungen, die Afghanistan für Frauen in den vergangenen 20 Jahren erlebt hat. Sie selbst arbeitet bei einer Organisation, die sich für Bildung, Kinder und Menschenrechte einsetzt. Eine ihrer Schwestern ist Fussballspielerin, die andere Radfahrerin, die dritte geht in die Schule. «Wir alle sind in Gefahr», fasst Samira zusammen.
An die Staaten der restlichen Welt, insbesondere denen, die durch den Truppenabzug aus Afghanistan den Eroberungsfeldzug der Islamisten erst ermöglicht haben, richten die Frauen eine eindeutige Forderung: «Wir erwarten von den Regierungen dieser Länder, dass sie das Taliban-Regime nicht offiziell anerkennen», so Liah. Samira betont, dass die Taliban stärker zurückgekommen seien, als sie es vor 20 Jahren waren. Sollten die anderen Länder Afghanistan nun allein lassen, würden die Taliban nur noch stärker werden.
Die beiden Frauen und mit ihnen die gesamte weibliche Bevölkerung wissen nicht, wie sich ihr Leben in Afghanistan entwickeln wird. Samira kann nur voller Pessimismus auf kommende Tage blicken. «Die Zukunft aller Frauen – einschliesslich mir – ist dunkel, den Frauen werden alle Rechte genommen. Ich habe keine Hoffnung auf eine gute und strahlende Zukunft.»