Nahost-Expertin «Im Libanon hat man schon länger das Gefühl, es sei fünf nach zwölf»

Von Anna Kappeler

6.8.2020

Luftaufnahmen zeigen Beirut nach Explosion

Luftaufnahmen zeigen Beirut nach Explosion

Wie gross die Zerstörung in Beirut ist, zeigen neue Luftaufnahmen der libanesischen Hauptstadt. Eine Untersuchungskommission in den kommenden Tagen einen ersten Bericht zu den möglichen Ursachen der verheerenden Explosion im Hafen vorlegen.

07.08.2020

Vor zwei Tagen kam es in Beirut zu einer gewaltigen Explosion. Nahost-Expertin Monika Bolliger kritisiert die korrupten Eliten Libanons. Und sie sagt, inwiefern auch die Schweiz eine Mitverantwortung tragen könnte.

Bei der verheerenden Detonation in der libanesischen Hauptstadt Beirut waren nach Angaben des Gesundheitsministeriums 135 Menschen getötet und etwa 5'000 verletzt worden. 2’750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen sollen sich Vermutungen zufolge entzündet haben und explodiert sein. Die Nahost-Expertin Monika Bolliger darüber, was das Land jetzt am dringendsten braucht.

Monika Bolliger, Sie lebten mehrere Jahre als Korrespondentin in Beirut. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von der Explosion erfahren haben?

Ich hatte Angst um viele Leute dort. Im ersten Moment sah man auf Videos ja nur eine grosse Rauchwolke, die alles verschluckt hatte. Erste Bekannte haben mir dann Fotos von ihren zerstörten Wohnungen und Häusern geschickt. Da wurde mir klar: Es könnte alle getroffen haben, ich muss mir um alle in Beirut Sorgen machen. Das habe ich noch nie erlebt, obwohl ich immer wieder mit Kriegsgebieten zu tun hatte.

Wie schätzen Sie heute und somit zwei Tage später die Lage vor Ort ein?

Ich habe den Eindruck, dass die Leute traumatisiert sind. Und, dass sie wütend sind auf die korrupten Eliten im Land. Die Libanesen mussten schon viele Kriege und viel Elend erleben, aber eine Explosion dieses Ausmasses gab es noch nie. Ich glaube, die Leute versuchen noch, die Fassung wiederzugewinnen.

Inwiefern steht die Regierung in der Verantwortung, falls wirklich hochexplosives Material am Hafen lagerte?

Zur Person: Monika Bolliger
Bild: zVg

Monika Bolliger berichtete von 2012 bis 2018 aus Jerusalem, Kairo und zuletzt Beirut über die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung im Nahen Osten. Heute lebt sie in der Schweiz und arbeitet als freie Journalistin und Analystin.

Ich denke, es ist relativ klar, dass Ammoniumnitrat explodiert ist, auch wenn es viele offene Fragen gibt. Für viele Libanesen ist es entsprechend ebenfalls klar, dass die Landesführung dafür verantwortlich ist. Aber: Die Regierung hat noch nie Verantwortung übernommen. Die Explosion ist eine von vielen Katastrophen, welche das Establishment mit seiner Politik über das Land gebracht hat.

Die Explosion wird keine Konsequenzen haben?

Ich denke, die Eliten werden versuchen, weiterzuwursteln. Im Libanon hat man schon länger das Gefühl, dass es fünf nach zwölf ist und nicht fünf vor zwölf. Die Regierung wurde vor zwei Jahren zwar ausgewechselt, das waren aber vor allem kosmetische Änderungen. An den Strukturen änderte sich nichts. Auch tiefe Reformen für mehr Rechtsstaat und weniger Korruption fehlen. Hier muss man aber sehen: Das politische System in Beirut ist extrem komplex und verschachtelt.

Beirut ist auch für seine Partymeile bekannt, fürs Feiern trotz allem quasi. Die Ecke, die am schwersten getroffen wurde, war auch eine beliebte Vergnügungsmeile. Was bedeutet deren Zerstörung für das Leben in der Stadt?

Im Viertel herrschte wegen der Wirtschaftskrise und des Coronavirus schon länger nicht mehr das gleiche Leben wie noch vor einigen Jahren. Schon vor dieser Woche hatten die Leute an bis zu 20 Stunden pro Tag keinen Strom mehr. Früher hatte man vielleicht drei Stunden täglich keinen Strom, das überbrückte man mit einem Generator. In letzter Zeit aber liefen wegen Treibstoffknappheit nicht einmal mehr die Generatoren zuverlässig, da war es dann einfach dunkel in der Nacht. Durch die Wirtschaftskrise rutschte die Mittelschicht in die Armut ab, verlor wegen des Währungszerfalls ihre Ersparnisse. Dazu stiegen die Lebensmittelpreise um 50 Prozent. Die Situation war also schon vor der Explosion dramatisch.

Droht das fragile Gleichgewicht nun noch mehr ins Wanken zu geraten?

Einerseits sind die Gräben seit dem Bürgerkrieg tief. Andererseits ist im Libanon das Gefühl, sich kurz vor einem neuen Krieg zu befinden, ein Dauerzustand. Und doch ist es bisher noch nicht zu einem neuen Krieg gekommen. Vielleicht, weil sich viele Menschen noch so gut an die Gräuel erinnern, und diese nicht noch einmal erleben wollen. Letztes Jahr formierte sich gegen diese Gräben eine breite Protestbewegung. Ihr Ziel: Daran zu erinnern, dass man ein Volk ist und alle von den gleichen Leuten ausgebeutet werden. Die Bewegung forderte deshalb den Rücktritt der ganzen Elite. Es gab ein neues Narrativ, anstatt Sunniten gegen Schiiten, oder Muslime gegen Christen, hiess es «Wir, das Volk, gegen sie, die Eliten».



Wie nachhaltig ist diese neue Bewegung?

Das ist nicht vorauszusehen. Überall auf der Welt, wo versucht wird, gegen ein sich an die Macht krallendes System anzukämpfen, ist ein Wandel schwierig. Im Libanon kommt erschwerend hinzu, dass sich der ganze Nahe Osten in einem Machtkampf befindet. Die Nachbarländer versuchen stets, den Libanon in die eine oder in die andere Richtung zu ziehen. Das macht es wirklich kompliziert.

Was braucht das Land jetzt am dringendsten?

Es braucht alles. Ich weiss kaum, wo anfangen. Unmittelbar jetzt braucht es einen Wiederaufbau. Danach braucht es einen funktionierenden Staat. Und funktionierende Institutionen, die für die Bürger da sind und ihnen Sicherheit gewährleisten. Vielleicht sage ich das jetzt noch aus dem Schock heraus, aber: Ich habe das Gefühl, Beirut wird nie mehr so sein wie vor der Explosion. Was aus den Trümmern dieser humanitären Notlage hinauswachsen kann, weiss ich nicht.



Wie könnte man von der Schweiz aus helfen?

Man muss schauen, dass man kein Geld an Institutionen schickt, die mit dem Staat verbandelt sind. Sonst landet es nur in den Taschen der korrupten Regierungsleute. Unabhängig ist beispielsweise das libanesische Rote Kreuz, das sehr gute Arbeit leistet. Es gibt zudem auch eine Liste mit unabhängigen, lokalen NGO.

Helfen heisst, Geld zu spenden?

Unmittelbar schon, ja. Natürlich verdienen die Libanesen auch unsere Solidarität. Davon aber können sie sich weder zu essen kaufen noch ihre Wohnungen wiederaufbauen. Auf politischer Ebene sollten wir darüber nachdenken, wo die korrupten Eliten ihr Geld lagern. Ich gehe davon aus, dass einige auch Geld auf Schweizer Konten haben. Darüber könnte man doch einmal diskutieren.

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