International Israel plant schon «nächste Phasen» im Kampf gegen Hisbollah

SDA

24.9.2024 - 04:47

Rauch von schweren israelischen Luftangriffen quillt aus dem südlibanesischen Marjayoun-Terrain. Über weite Teile des Südlibanon wurden heftige Luftangriffe geflogen. Foto: Marwan Naamani/ZUMA Press Wire/dpa
Rauch von schweren israelischen Luftangriffen quillt aus dem südlibanesischen Marjayoun-Terrain. Über weite Teile des Südlibanon wurden heftige Luftangriffe geflogen. Foto: Marwan Naamani/ZUMA Press Wire/dpa
Keystone

Die folgenschwersten Angriffe Israels im Libanon seit fast zwei Jahrzehnten schüren die Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation in der Region.

Keystone-SDA

Rund 500 Menschen wurden nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums bei massiven Luftangriffen getötet, darunter Dutzende Kinder – zudem gebe es mehr als 1600 Verletzte. Es ist die höchste Opferzahl im Südlibanon seit dem letzten Krieg zwischen Israel und der mächtigen Hisbollah-Miliz im Jahr 2006.

Angriffe zielten auf Waffenlager der Hisbollah

Das israelische Militär griff nach eigenen Angaben am Montag rund 1.600 Ziele im Libanon an – und führte die Attacken in der Nacht auf Dienstag fort. Die Angriffe unter dem Codenamen «Pfeile des Nordens» zielten nach israelischer Darstellung auf Waffenlager der proiranischen Hisbollah-Miliz, die Israel seit Anfang Oktober mit rund 9.000 Raketen und Drohnen angegriffen habe. Einige dieser Lager hätten sich in privaten Wohnräumen von Zivilisten befunden, die vor den Angriffen aufgerufen worden seien, sich in Sicherheit zu bringen.

Die Hisbollah, die im Libanon praktisch wie ein Staat im Staate agiert, reagierte ihrerseits mit heftigen Raketenangriffen auf israelisches Gebiet. Rund 250 Geschosse seien aus dem Libanon abgefeuert und teils von der Raketenabwehr abgefangen worden, teils in offenem Gelände eingeschlagen, teilte Israels Militär mit. Einige davon reichten nach Medienberichten deutlich tiefer in israelisches Gebiet hinein als je zuvor seit Beginn der Hisbollah-Angriffe.

Auch im Westjordanland gab es erstmals Einschläge – in ähnlicher Entfernung vom Libanon wie der Grossraum Tel Aviv. Die Hisbollah zielte nach eigenen Angaben auch auf Anlagen der Rüstungsindustrie nahe der Hafenstadt Haifa und auf Militärstützpunkte.

Netanjahu wendet sich ans libanesische Volk

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wandte sich mit einer Botschaft direkt an das libanesische Volk: «Israels Krieg ist nicht mit euch, sondern mit der Hisbollah», sagte er. «Die Hisbollah hat euch schon allzu lange als menschliche Schutzschilde missbraucht.» Um Israel gegen Hisbollah-Angriffe zu verteidigen, müssten die Waffen der Miliz unschädlich gemacht werden, sagte Netanjahu.

Im Süden des Libanons brach Panik unter den Menschen aus, viele flohen in Richtung Beirut oder andere Orte im Norden des Landes. Auf den Strassen kam es zu langen Staus, Schulen wurden in Notunterkünfte umgewandelt. Es herrsche «Panik und Chaos», berichteten Augenzeugen. Nach den Bombardierungen im Süden griff Israels Luftwaffe auch Stellungen in der Bekaa-Ebene im Nordosten des Libanons an, wie es aus Sicherheitskreisen hiess.

Die israelische Regierung beschloss nach den Luftangriffen in Erwartung von Gegenschlägen einen landesweiten Ausnahmezustand. Dieser hat auch zur Folge, dass die Grösse von Versammlungen eingeschränkt werden kann. In der Nacht wurde in vielen Ortschaften im Norden Israels erneut Raketenalarm ausgelöst.

Israel will Zehntausende Raketen zerstört haben

Bei den Angriffen im Libanon wurden nach Angaben von Verteidigungsminister Joav Galant Zehntausende Raketen der Hisbollah zerstört. Vor Beginn ihrer Angriffe am 8. Oktober wurde das Waffenarsenal der Hisbollah auf 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper geschätzt.

Generalstabschef Herzi Halevi erklärte, das Militär greife die von der Hisbollah in den vergangenen 20 Jahren für ihren Kampf gegen Israel aufgebaute Infrastruktur an. Seine Armee bereite schon «die nächsten Phasen» des Kampfes vor, sagte er, ohne Details zu nennen.

Bislang greift Israel den Libanon aus der Luft und mit Artillerie über die Grenze hinweg an. Eine Bodenoffensive im Süden des Libanons würde eine weitere gefährliche Eskalation des Konflikts bedeuten – und möglicherweise andere mit dem Iran verbündete Kräfte noch tiefer in den Krieg hineinziehen. Israels Armee weicht Fragen zu einem möglichen Truppeneinmarsch im Libanon bislang aus.

Terroristen der mit der Hisbollah verbündeten Hamas und anderer extremistischer Gruppen hatten am 7. Oktober 2023 mehr als 1.200 Menschen in Israel getötet und etwa 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Das beispiellose Massaker löste den Gaza-Krieg aus, seither greift die Hisbollah den jüdischen Nachbarstaat fast täglich mit Raketen an. Israel will die Hisbollah wieder aus dem Grenzgebiet verdrängen, um die Sicherheit seiner Bürger im Norden zu gewährleisten und Vertriebenen die Rückkehr zu ermöglichen.

Libanon wirft Israel «Vernichtungskrieg» vor

Die libanesische Regierung warf Israel angesichts der Angriffe «einen Vernichtungskrieg in jedem Sinne des Wortes» vor. «Wir als Regierung arbeiten daran, diesen neuen Krieg Israels zu stoppen und einen Abstieg ins Unbekannte zu verhindern», sagte der geschäftsführende Ministerpräsident Nadschib Mikati.

Frankreichs Regierung beantragte wegen der kriegerischen Eskalation eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats für diese Woche. Allerdings ist das mächtigste Gremium der Vereinten Nationen selbst durch politische Konflikte nur noch eingeschränkt handlungsfähig. Am Dienstag beginnt zudem die mehrtägige Generaldebatte der UN-Vollversammlung, der Nahost-Konflikt wird absehbar eine wichtige Rolle spielen. Netanjahu soll in der zweiten Wochenhälfte anreisen und dürfte eine kämpferische Rede halten – schliesslich sind viele UN-Mitglieder Israel gegenüber kritisch oder sogar feindlich eingestellt.

Israels Armee griff nach eigenen Angaben auch ein Ziel im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut an, wo am Freitag mit Ibrahim Akil ein hochrangiger Militärkommandeur der Miliz getötet worden war. Ziel des neuen Angriffs war nach unbestätigten israelischen Medienberichten der Hisbollah-Kommandeur Ali Karaki, der für die südliche Front zuständig war und Akil ablösen sollte. Die Hisbollah teilte nach dem Angriff mit, Karaki sei wohlauf. Nach Angaben der israelischen Armee ist Karaki einer der wenigen noch lebenden Köpfe der Hisbollah-Führungsriege auf der «Abschussliste» des Militärs.

Warnungen an Zivilbevölkerung vor den Angriffen

Vor der neuen Angriffswelle soll die Zivilbevölkerung im Libanon durch automatisierte Anrufe und per SMS gewarnt worden sein. Berichten zufolge wurde dazu aufgerufen, sich bis auf Weiteres von Dörfern fernzuhalten, in denen Waffen der Hisbollah gelagert seien. Das libanesische Informationsministerium bezeichnete die Aktion als «psychologische Kriegsführung» Israels.

Seit der neuerlichen Eskalation zwischen Israel und dem Libanon mussten rund 150.000 Menschen ihre Wohnorte auf beiden Seiten der Grenze verlassen. Die kriegsähnliche Auseinandersetzung hat sich nach der Explosion Tausender Funkgeräte im Libanon sowie einem israelischen Angriff auf die Hisbollah-Führung nahe Beirut mit mehr als 50 Toten vorige Woche nochmals verschärft. Israels Armee weitete die Angriffe im Nachbarland abermals aus, auch dabei gab es Dutzende Tote und Verletzte.

UN-Resolution wird nicht durchgesetzt

Israel und die Hisbollah führten bereits 1982 und 2006 Krieg gegeneinander. Die Miliz ist heute deutlich stärker bewaffnet als während des Kriegs vor fast 20 Jahren. Sie handelt nach eigener Darstellung aus Solidarität mit der Hamas, die im Gazastreifen gegen Israel kämpft und ebenfalls vom Iran unterstützt wird.

Israels Militär hat die Zahl seiner Angriffe im Gazastreifen zuletzt verringert und konzentriert sich zunehmend auf die Hisbollah. Damit will es erreichen, dass sich die Miliz wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht – so wie es die UN-Resolution 1701 vorsieht, die das Kriegsende 2006 markierte. Der Resolution zufolge darf die Hisbollah entlang der Grenze nicht präsent sein. Dies wird aber weder von der UN-Beobachtermission noch von der libanesischen Armee durchgesetzt.