Iraner*innen schlagen zurück «Die Augen der Leute waren voller Hass»

Von Philipp Dahm

4.11.2022

Demonstrierende zünden in Karadsch am 3. November einen Transporter der Sicherheitskräfte an.
Demonstrierende zünden in Karadsch am 3. November einen Transporter der Sicherheitskräfte an.
Screenshot: Twitter/beybun_rojhilat

Wegen neuerlicher Massendemonstrationen setzt das Regime im Iran auf Repression – und auch scharfe Munition ein. Doch die Angst vor den Mullahs nimmt eher ab: Die Menschen schlagen vielerorts im Land zurück.

Von Philipp Dahm

4.11.2022

Es sind enorme Bilder, die sich auf Social Media verbreiten. Und sie ähneln sich: In der Provinzhauptstadt Zahedan gehen Männer und Frauen nach dem heutigen Freitagsgebet auf die Strasse, in Chasch macht das Volk seinem Unmut Luft, in Teheran ziehen Frauen ohne Kopftuch durch die Strassen, in Schiras wird die Nacht zum Tag gemacht und in Karadsch legen Demonstrierende den Verkehr lahm.

Stellvertretend zeigt dieses Video aus Isfahan, was die Stunde geschlagen hat: Der Iran brennt. Und dass sich der Protest nach der Ermordung von Mahsa Amini im ganzen Land ausgebreitet hat, ist ein grosses Problem für die Regierung: Weil die Demonstrationen dezentral sind, kommen die Sicherheitskräfte nach Wochen des Widerstands an ihre Grenzen.

Das Regime versucht deshalb nun, auf mehreren Ebenen zurückzuschlagen. Zum Beispiel vor Gericht: Mindestens 14'000 Menschen sind in den vergangenen Wochen verhaftet worden, denen zum Teil nun Schauprozesse gemacht werden. Die Strafen des Regimes sind drakonisch – und das besonders dann, wenn die Angeklagten gewisse Bekanntheit haben.

Schauprozesse, mundtot machen, nackte Gewalt

An ihnen werden Exempel statuiert wie bei dem Sänger Saman Yasin: Der 27-jährige Kurde ist zum Tode verurteilt worden, weil er «Krieg gegen Gott» geführt habe, sagen die Richter. Die Bilder des entsetzten jungen Mannes, die im Moment der Urteilsverkündung entstehen, gehen unter die Haut.

In Gefahr ist im Iran aber nicht nur, wer an den landesweiten Protesten teilnimmt. Das Regime bekämpft auch jene, die über die Geschehnisse berichten: Die kurdische Journalistin Nazila Maroofian wird am 30. Oktober in Teheran verhaftet, weil sie Mahsa Aminis Vater Amjad interviewt hat. Dabei werden Vorwürfe laut, die Mullahs setzten die Eltern unter Druck und vertuschten den Mord. Nun bringt das Regime alle zum Schweigen.

Doch vor allem reagiert der Klerus mit nackter, kaltblütiger Gewalt. Nachdem die Obrigkeit vergeblich die Demonstrationen für beendet erklärt hat, wird scharf geschossen. In Teheran wird ein zweijähriges Kind erschossen und in Chasch verletzt die Polizei einen Buben, der mit einem Streifschuss an der Wange nur knapp mit dem Leben davonkommt.

«Irgendwie hatte keiner Angst»

In Lahidschan strecken Sicherheitskräfte einen 16-Jährigen nieder: Weil ihm niemand helfen darf, verblutet Erfan Zamani auf der Strasse. Mindestens 277 Menschen sind laut Iran Human Rights im Zuge der Unruhen bereits gestorben – mindestens 40 davon Kinder. Sie sind ohnehin die Leidtragenden in dieser notabene sehr jungen iranischen Gesellschaft, wie das untenstehende Video zeigt.

Es zeigt Dalia Moloudi am Grab ihres Vaters Ismail, der bei Protesten in Mahabad von der Polizei getötet worden ist. «Ich werde denen, die meinen Vater getötet haben, nie vergeben», sagt die Siebenjährige. Der Clip steht für eine weitere Entwicklung dieses Konflikts: Obwohl das Regime mit immer mehr Gewalt reagiert, erreicht die Repression immer weniger, was es bewirken soll.

Das zeigt sich etwa am 3. November in Teheran, wo die Menschen nach 14 Tagen Trauerzeit wegen des Todes der 22-jährigen Hadis Nadschafi auf die Strasse gehen. «Irgendwie hatte keiner Angst», sagt ein Passant laut Nachrichtenagentur dpa. Es sind womöglich einfach schon zu viele gestorben: «Die Augen der Leute waren voller Hass, da war kein Platz mehr für Angst.»

Das Volk schlägt zurück

«Wenn man sieht, wie die Familie unter dem Tod der Tochter leidet, kommt einem die Wut hoch», sagt ein junger Mann dazu. Und diese Wut bekommt das Regime zu spüren: Die Demonstrierenden in Teheran schlagen zurück. Sie töten einen Miliz-Soldaten und verletzten zehn Polizisten. Die Sicherheitskräfte setzen Gewehre und Macheten ein, berichtet BBC.

Auch in Karadsch werden laut Medienberichten Sicherheitskräfte verletzt und getötet. In Zahedan soll ein Geistlicher getötet worden sein. Videos auf Social Media suggerieren, dass sich der Konflikt auch anderswo im Land radikalisiert: In Täbris, dem Zentrum der Aserbaidschaner*innen im Iran, nehmen die Menschen Steine in die Hand, um sich gegen die Repression zu wehren.

«Die Angst vor dem Regime erodiert», analysiert dann auch «Politico» – und die Nachrichtenagentur «Reuters» attestiert ebenfalls, dass sich der Wind gedreht hat. Die vielen jungen Bürger haben das Regime satt: «Ich habe nur ein Leben und ich will es in Freiheit leben», wird eine 17-Jährige zitiert. «Wir haben keine Angst davor, getötet zu werden. Wir werden das Regime am Ende stürzen.»

Gesellschaft als Ganzes betroffen

Dass diese Entwicklung umkehrbar ist, ist schwer vorstellbar. Ein Grund dafür sind auch iranischsprachige westliche Medien, die im technikaffinen Iran einen festen Platz haben und via Satellit weitflächig konsumiert werden, erklärt der in Teheran geborene Yale-Professor Abbas Amanat Lex Fridman.

Der Protest erfasse alle Bereiche des Lebens: Der Ausfall des Internets koste das Land pro Tag 50 Millionen Dollar, der stark gewachsene Online-Handel komme zum Erliegen und gleichzeitig sorge eine galoppierende Inflation dafür, dass die Menschen im Supermarkt kaum noch etwas bekämen. Die Mittelschicht ist betroffen – und auch ihr Hass ist gross, so Amanat.

Das Regime versucht nun unter anderem, durch Aussenpolitik von den inneren Spannungen abzulenken. Während die Mullahs die militärische Kooperation mit Russland stark ausbauen und Moskau Drohnen sowie angeblich auch Kurz- und Mittelstrecken-Raketen liefern, erhofft sich Teheran im Gegenzug Hilfe des Kremls beim Abschluss des eigenen Atomprogramms. Das berichtet CNN unter Berufung auf amerikanische Geheimdienste.

Die alten Feindbilder verfangen nicht mehr

Ali Chamenei, das religiöse Oberhaupt, spricht am heutigen Jahrestag der Erstürmung der US-Botschaft im Jahr 1979 denn auch von einer «neuen Weltordnung», in der «Amerika keine bedeutende Rolle mehr spielen» werde – «Tod Amerika» und «Tod Israel» inklusive.

US-Präsident Biden: «Der Iran wird sich sehr bald selbst befreien.»

Präsident Ebrahim Raisi betont derweil im chinesischen TV, Peking, Teheran und Moskau würden eine neue Achse bilden, die Washington Kontra gebe.

Doch das sind Feindbilder, die ebenfalls aus dem Jahr 1979 stammen. Damit werden die Mullahs den Hass nicht ableiten, den sie seither heraufbeschworen haben und der sich nun Bahn bricht.

Proteste im Iran dauern trotz «ultimativer» Warnung an

Proteste im Iran dauern trotz «ultimativer» Warnung an

Im Iran halten die Proteste gegen die Obrigkeit der Islamischen Republik an – trotz einer ultimativen Warnung der mächtigen Revolutionsgarden. Auch am Sonntag kam es zu Kundgebungen, vor allem an Dutzenden Universitäten im Land. In auf Internet-Netzwerken geteilten Videos war der Einsatz von Tränengas zu sehen, teilweise auch Schüsse auf Demonstranten. Die Revolutionsgarden hatten am Samstag Regierungsgegner vor weiteren Protesten gewarnt. «Geht nicht mehr auf die Strassen. Heute ist der letzte Tag der Unruhen», sagte der Kommandeur der Revolutionsgarden, Hussein Salami.

31.10.2022