Russischer Druck auf erschöpfte Verteidiger Kleinere Vorstösse statt grosse Frühjahrsoffensive

AP/tcar

19.4.2024

Russische Soldaten im Einsatz (Russian Defence Ministry Press Service via AP).
Russische Soldaten im Einsatz (Russian Defence Ministry Press Service via AP).
Bild: KEYSTONE

Mit dem Ende von Tauwetter und Schlammperiode rechnen viele mit einer russischen Großoffensive in der Ukraine. Doch die Invasoren haben womöglich andere Pläne, um die geschwächten Verteidiger zu überwältigen.

AP/tcar

19.4.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Trotz erhöhtem Druck auf die ukrainischen Verteidiger ist eine russische Grossoffensive nicht abzusehen.
  • Russland beschränkt sich auf kleinere Angriffe an den Fronten, um das ukrainische Militär weiter zu schwächen.
  • Auf diese Weise könnten die russischen Soldaten über die Front hinweg schliesslich mehr und mehr in offenes Gelände vordringen.

In der Ukraine erhöhen die russischen Invasionstruppen den Druck auf die erschöpften Verteidiger. Damit bereiten sie weitere Eroberungen im Frühjahr und Sommer vor, wenn das vom Winter schlammige Gelände trocken ist, sodass Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und anderes schweres Gerät besser in Schlüsselpositionen gebracht werden können.

Während im dritten Kriegsjahr ein wichtiges US-Hilfspaket für Kiew seit Monaten im Kongress festhängt, setzt Russland zunehmend satellitengesteuerte Gleitbomben ein, die von Flugzeugen aus sicherer Entfernung abgeworfen werden können, um ukrainische Einheiten zu vernichten, denen es an Soldaten und Munition mangelt.

Doch trotz der russischen Überlegenheit bei Feuerkraft und Mannschaftsstärke wäre eine massive Bodenoffensive riskant. Russische Militärblogger und andere Experten halten sie auch für unnötig. Russland könne sich auf kleinere Angriffe an den Fronten beschränken, um das ukrainische Militär weiter zu schwächen, sagen sie.

Intensive russische Luftangriffe auf Ukraine, Rakete dringt zwei Kilometer in polnischen Luftraum ein

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STORY: Die Ukraine hat nächtliche russische Luftangriffe mit insgesamt 57 Raketen und Drohnen gemeldet. Ziel waren nach Angaben der Behörden insbesondere Kiew und die an Polen grenzende Region Lwiw. 43 der Geschosse hätten abgefangen werden können, davon allein etwa ein Dutzend über Kiew und in der näheren Umgebung der Hauptstadt. Dennoch wurde Kiew am Morgen von mehreren Explosionen erschüttert, teilte die Militärverwaltung der Stadt mit. Es seien kleinere Schäden entstanden. Polen hat Russland eine Verletzung seines Luftraums im Zuge eines Raketenangriffs auf die Ukraine vorgeworfen. Ein von Russland auf die westliche Ukraine abgefeuerter Marschflugkörper sei am Sonntag um 04.23 Uhr rund zwei Kilometer in den polnischen Luftraum eingetreten und dort für 39 Sekunden geblieben, teilten die polnischen Streitkräfte mit. Polen und Verbündete hätten Luftfahrzeuge im Bereich der Grenze zur Ukraine «aktiviert», um die Luftraumsicherheit zu gewährleisten, teilte das Einsatzkommando der polnischen Streitkräfte mit. Das russische Verteidigungsministerium reagierte zunächst nicht auf die Bitte um eine Stellungnahme.

25.03.2024

Die ukrainische Offensive im vergangenen Jahr scheiterte, weil ihre Soldaten in riesigen Minenfeldern steckenblieben, wo sie von Artillerie und Drohnen vernichtet wurden. Die Russen haben keinen Grund, jetzt den gleichen Fehler zu begehen.

Russland könne auf tausend örtlich begrenzte Offensiven setzen, beschreibt der Militärexperte Michael Kofman von der Carnegie Stiftung die mögliche russische Taktik. Auf diese Weise könnten sie über die Front hinweg schliesslich mehr und mehr in offenes Gelände vordringen. Kofman spricht von «einem Tod durch Tausend Schnitte».

Ukrainische Truppen sind exponiert

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat zwar im November angeordnet, hinter der mehr als 1000 Kilometer langen Frontlinie Gräben, Befestigungen und Bunker anzulegen. Beobachtern zufolge sind die Bauarbeiten aber nur langsam vorangekommen, sodass einige Gebiete nicht geschützt sind.

Kofman sagt, die Ukraine sei «ziemlich im Rückstand damit, sich effektiv an der gesamten Front zu verschanzen». Ausserdem fehle es an guten rückwärtigen Verteidigungslinien in der zweiten Reihe.

«Wenn die Verteidigungslinien im Voraus gebaut worden wären, hätten sich die Ukrainer nicht so zurückgezogen», sagt der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow. «Wir hätten den ganzen Herbst über Gräben ausheben müssen, um den russischen Vormarsch aufzuhalten. Jetzt liegt alles ungeschützt, und das macht es sehr gefährlich.»

Kreml braucht Kontrolle von Donezk

Nach der Eroberung des ukrainischen Bollwerks Awdijiwka konzentrieren die Russen ihre Vorstösse auf die Stadt Tschassiw Jar. Von dort aus könnten sie in Richtung Slowjansk und Kramatorsk angreifen, wichtige Städte in dem von Kiew kontrollierten Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Russland hat Donezk und drei weitere Regionen im Jahr 2022 völkerrechtswidrig annektiert. Für den Kreml ist die vollständige Kontrolle von Donezk besonders wichtig.

Schdanow sagt, die Ukraine verfüge nicht über die Feuerkraft, um russische Angriffe abzuwehren. «Sie haben versichert, sie hätten eine Verteidigungslinie zehn Kilometer hinter Awdijiwka, wo sich unsere Truppen eingraben könnten», sagt er. «Aber es gibt keine.»

Ukraine: Lage an der Ostfront laut Regierung angespannt, Hilfe der Partner benötigt

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STORY: Die Ukraine benötige die Hilfe ihrer Verbündeten, um Bedrohungen aus der Luft abzuwehren, so wie auch Israel beim Angriff des Iran. Diesen Vergleich hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag in seiner nächtlichen Videobotschaft gezogen. «Moderne Luftverteidigungssysteme sind in der Lage, Leben zu schützen – das wurde im Nahen Osten gezeigt, als die Luftverteidigung iranische Raketen und Drohnen abschoss, die auf Israel gerichtet waren. Die ganze Welt kann sehen, was wirklicher Schutz ist. Und die ganze Welt hat gesehen, dass Israel bei der Verteidigung nicht allein war – die Bedrohungen am Himmel wurden auch von den Alliierten zerstört.» Selenskyj forderte den US-Kongress erneut auf, einem lebenswichtigen Hilfspaket zuzustimmen, das seit Monaten durch politische Auseinandersetzungen blockiert wurde. Die Streitkräfte der Ukraine sind mit neuen Angriffen russischer Truppen im Osten und täglichen Angriffen russischer Raketen und Drohnen auf Städte und Infrastruktur konfrontiert. Der Iran hat während der im Februar 2022 gestarteten Invasion in der Ukraine Tausende von Shahed-Kamikaze-Drohnen an Russland geliefert. Sie wurden eingesetzt, um die ukrainische Luftverteidigung zu schwächen und Infrastruktur weit entfernt von der Front zu treffen. Unterdessen hat der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow die Lage an der Ostfront als angespannt bezeichnet. Die russischen Truppen versuchten, in den Gebieten westlich von Bachmut vorzurücken, schrieb der Minister auf Facebook. Das ukrainische Militär rechnet damit, dass die russischen Truppen die Stadt Tschassiw Jar bis zum 9. Mai einnehmen wollen. An diesem Tag begeht Russland mit einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau den Sieg über Nazi-Deutschland.

16.04.2024

Der Befehlshaber der US-Truppen in Europa, General Christopher Cavoli, warnte, wenn der Kongress der Militärhilfe für die Ukraine nicht bald zustimme, werde die Ukraine den Russen bei Artilleriegeschossen in wenigen Wochen eins zu zehn unterlegen sein.

Die russische Perspektive

Präsident Wladimir Putin hat nach seiner von vornherein feststehenden Wiederwahl im März angekündigt, eine sogenannte Sicherheitszone einzurichten, um die russischen Grenzregionen vor ukrainischem Beschuss und Angriffen zu schützen. Einzelheiten nannte er nicht. Russische Militärblogger und Beobachter sagen, Moskau könne neben den Vorstössen in der Region Donezk auch versuchen, die zweitgrösste ukrainische Stadt Charkiw zu erobern, was ihnen in den ersten Kriegstagen misslungen war.

Ein mögliches Anzeichen dafür könnten verstärkte russische Angriffe auf Kraftwerke in der Gegend um die Stadt mit 1,1 Millionen Einwohnern sein, die etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Dort gab es bereits erhebliche Schäden und Stromausfälle.

Schdanow sagt, die ukrainische Luftabwehr sei nicht stark genug, um Charkiw und andere Städte zu schützen. Die ständigen russischen Angriffe seien Teil einer Erstickungsstrategie, mit der die Infrastruktur zerstört werden solle, um die Einwohner*innen zur Flucht zu zwingen.

Der russische Ex-General Andrej Gurulew räumt ein, die Einnahme von Charkiw sei eine grosse Herausforderung. Die russischen Truppen würden wohl versuchen, die Stadt zu umzingeln. «Die Stadt kann eingekesselt und blockiert werden», sagte Gurulew, der jetzt dem Verteidigungsausschuss des Parlaments angehört. Die Einnahme von Charkiw könne den Weg für einen Vorstoss tief in die Ukraine ebnen. Das erfordere aber mehr russische Truppen.

Keine neue russische Mobilisierungswelle

Eine von Putin im Herbst 2022 angeordnete Teilmobilisierung von Reservisten hat sich als äusserst unpopulär erwiesen. Hunderttausende gingen ins Ausland, um nicht zur Armee eingezogen zu werden. Inzwischen hat der Kreml einen anderen Weg eingeschlagen. Er versprach relativ hohe Löhne und andere Vorteile, um seine Streitkräfte mit freiwilligen Soldaten aufzustocken. Nach Angaben von Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte das Erfolg. Bis 2023 habe das Militär 540'000 Freiwillige rekrutiert, sagte er.

«Es gibt keine Pläne für eine neue Mobilisierungswelle», versicherte der Vizechef des Verteidigungsausschusses im russischen Oberhaus, Viktor Bondarew, in einer Stellungnahme, die von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti verbreitet wurde. «Wir kommen mit den Kampffähigkeiten, die wir haben, gut zurecht.»