Erfahrungsbericht aus LondonImmerhin der Bier-Nachschub funktioniert noch
Von Hanspeter «Düsi» Küenzler, London
9.10.2021
In Grossbritannien mangelt es an allem: Die Tankstellen sind leer, die Regale in den Läden auch, es fehlt an Lastwagenfahrern und Metzgern. Premier Boris Johnson meint: Das zeige, dass der Brexit funktioniere.
Von Hanspeter «Düsi» Küenzler, London
09.10.2021, 23:50
10.10.2021, 11:59
Hanspeter «Düsi» Küenzler, London
Am vergangenen Wochenende sollte eine Freundin im Städtchen Bath ein neues Haus beziehen. Meine bessere Hälfte hatte ihre Hilfe versprochen. Natürlich hätte sie für die dreistündige Fahrt den Zug nehmen können. Aber ohne Auto mit heruntergeklapptem Rücksitz wäre ihre Präsenz eher überflüssig gewesen.
Nur, seit Tagen sass der Schlitten bewegungslos vor dem Haus. Während der letzten, vergeblichen Rundfahrt auf der Suche nach Benzin war die Nadel tief in den roten Bereich gerutscht. Am Mittwochabend zog ich zu Fuss los, um die Tankstellen abzuklappern. Nach einer zweieinhalbstündigen Wanderung kehrte ich mit bad news zurück.
Schlangestehen für nichts
Überall das gleiche Schild: «No petrol». Das gleiche Spiel wiederholte sich am Donnerstag. Am Freitagmorgen hatte ausgerechnet die Tankstelle um die Ecke ein paar Spritzer Nachschub beschaffen können. Und die Wartezeit dauerte bloss 25 Minuten! Für uns ein nerviges Luxusproblem – und es wurde gelöst.
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zVg
Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Künzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».
Für unzählige Briten eine Situation, die Existenzängste auslöst. Zum Beispiel mein Pub-Kumpel Nigel: Der Direktor einer Reinigungsfirma ist auf eine verlässliche Dieselversorgung angewiesen. Am Sonntag stand er eine Stunde lang Schlange – kurz bevor er an die Reihe gekommen wäre, war die Tankstelle leer. Noch am Donnerstag habe es fast nirgends in London Diesel gegeben.
Der Fahrer eines Tanklasters berichtete, wie ihm zwei Dutzend Autos meilenweit hinterhergefahren seien – ehe er auf eine Baustelle fuhr und seine Betonladung ausschüttete. Sieben Stunden habe der Chauffeur von Star-Kicker Cristiano Ronaldo gemäss «Manchester Evening News» im Bentley gewartet, ehe es dann doch nichts gab.
Ist das erst der Anfang?
Inzwischen soll das Militär den Benzinnachschub sicherstellen. Damit mag das Schlimmste überstanden sein. Alle Vorzeichen deuten aber darauf hin, dass es bloss der Anfang einer grösseren Krise ist. Denn knapp ist nicht das Benzin, sondern das Reservoir von Lastwagenfahrern. Und von diesem zehren nicht nur die Treibstofflieferanten, sondern alle Industriezweige, die auf voluminöse Strassentransporte angewiesen sind.
Alles lediglich politisch motivierte Panikmache derf Medien, behaupten die Unterstützer von Premier Johnson. Die Folgen einer stümperhaften und eigennützigen Brexit-Planung, meinen seine Gegner. Es ist in der Tat schwierig, den Engpass anders als mit dem Brexit zu erklären. Die Vereinigung von Lastwagenfahrern prophezeite bereits vor vielen Monaten einen akuten Fahrermangel.
Chauffeure aus EU-Ländern erfüllten nicht mehr die Bedingungen, die ihnen ein Verbleib in Grossbritannien erlaubt hätten. Dazu gehört Grossbritannien auch nicht mehr zum Logistiknetzwerk der EU, das Leerfahrten verhinderte und dem Warenfluss auch auf der Insel förderlich war.
Bilder von leeren Supermarkt-Gestellen werden auf Twitter seit Wochen herumgereicht. Die wichtige Supermarkt-Kette Tesco macht keinen Hehl daraus, dass man das Angebot erheblich eingedampft habe, um das Transportsystem nicht über Gebühr zu strapazieren. So stehen heute statt zwanzig Teigwarensorten noch deren vier im Regal.
In dieser wählervergraulenden Situation biss die Regierung in den sauren Apfel und stellte temporäre Arbeitsvisa für Fahrer auch aus der EU in Aussicht. Aber das Land ist als Arbeitgeber nicht mehr attraktiv: ganze 27 Fahrer nahmen die Offerte an. Die Probleme beschränken sich nicht nur auf den Transportbereich. Bauern beklagen sich, dass der Broccoli und anderes Gemüse in den Feldern verfault, weil es keine landwirtschaftlichen Gelegenheitsarbeiter mehr gebe.
Bauern müssen ihre Tiere notschlachten
Auch an Metzgern fehlt es. Die Wartezeiten in den Schlachthöfen sind so lang geworden, dass die Schweine in ihren Ställen zu dick werden und offenbar von den Bauern selber notgeschlachtet werden müssen – die Rede ist von 120'000 Tieren, die getötet werden, ohne dass ihr Fleisch genutzt oder die Züchter entlöhnt würden. Darauf angesprochen meinte Boris Johnson in einem Interview mit der BBC locker: «Ich muss Sie in ein Geheimnis einweihen. Unsere Fleischversorgung erfordert so oder so das Töten von Tieren.»
Eine Million Arbeitsplätze sind auf der Insel derzeit zu vergeben. Ohne die Gelegenheitsarbeiter aus der EU, die gewillt waren, für Dumpinglöhne zu arbeiten, werden diese nicht so schnell zu besetzen sein. Immerhin: noch funktioniert der Bier-Nachschub. Sollte auch dieser zusammenbrechen, wird im Land die Hölle losbrechen.
Gerade ist der jährliche Parteitag der Tories mit dem üblichen Tsunami von schönen Reden zu Ende gegangen. Nicht nur Schatzkanzler Rishi Sunak fühlte sich bemüssigt, das Volk darauf vorzubereiten, dass man wohl auch an Weihnachten noch auf gewisse Dinge verzichten müsse, den traditionellen Truthahn zum Beispiel: «Wir haben keinen Zauberstab, mit dem wir einfach so alle Probleme wegzaubern können.»
Nur einer kann all dem nur Gutes abgewinnen
Selbst Boris Johnson, der seine Fans ganz so, wie sie es lieben, mit polternder Rhetorik und bizarren Metaphern überschüttete, deutete an, dass der Pfad in nächster Zeit steinig sein könnte. Aber natürlich sah er auch das in einem prächtig positiven Licht. Die Brexit-Abstimmung sei ein Votum gewesen, das alte, kaputte System abzuschaffen, verkündete er. «Wir sind daran, es durch ein neues Modell mit hohen Löhnen, hoher Kompetenz und hoher Produktivität zu ersetzen.»
Die momentanen Probleme seien ein Zeichen dafür, dass man sich auf einem guten Weg befinde, denn ohne Schwierigkeiten gehe es in Umbruchzeiten nicht ab. «Geschichte und Zufall hat in diesem Land einen einmaligen Geist hervorgebracht, der von den Krankenpflegern über die Tech-Milliardäre bis hin zu Emma Raducanu reicht.» Selbst die gemässigte Tageszeitung «The Times» konnte seine Auftritte nicht ernst nehmen. «Boris der CSlown ist die falsche Nummer für harte Zeiten», lautete der Titel einer bösen Kolumne.