Covid-Regeln fallen weg Jetzt bleibt England nur noch der Menschenverstand – ausgerechnet

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

19.7.2021

Volle Fahrt voraus: Der britische Premierminister Boris Johnson hält am Lockerungsdatum fest. 
Volle Fahrt voraus: Der britische Premierminister Boris Johnson hält am Lockerungsdatum fest. 
Bild: Jeff J Mitchell/Pool Photo via AP

Ab heute herrscht in England wieder «Normalzustand», fast alle Covid-Regeln sind abgeschafft. Das Timing ist verblüffend, denn die Zahl der Fälle schiesst erneut in die Höhe.

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

19.7.2021

Jubel herrscht: Ab diesem Montag dürfen wir «Briten» wieder «normal» tun. Ab sofort herrscht keine staatliche Maskenpflicht mehr. In den Pubs müssen wir uns nicht mehr anmelden oder aufpassen, dass höchstens sechs Kumpel am Tisch sitzen, oder dass die Gruppe aus maximal drei Haushalten stammt.

Wir dürfen wieder an der Bar sitzen, und zwar ohne Trennscheibe zwischen uns und Maggie, der plauderfreudigen Bar-Dame. Wir können ins Kino, ohne einzuchecken, die Schlange vor dem Glace-Stand führt vor lauter Abstandhalten nicht mehr zweimal um den Park herum. Und uns in die U-Bahn drängen, damit wir rechtzeitig ins Büro kommen, das dürfen wir auch wieder. Wie gesagt: Jubel!

Aber haben wir wirklich Grund dazu? Die Zeichen sind verwirrend. Selbst Premierminister Boris Johnson scheint sich seiner Sache nicht wahnsinnig sicher zu sein. Oder ist er am Ende schlicht wahnsinnig? Die nächsten Monate werden es zeigen. In der Zwischenzeit halten wir uns an seinen Rat, uns auf den guten Menschenverstand zu verlassen. Den eigenen und – es ist beängstigend – den von unserer Umwelt.

«Ist Johnson am Ende schlicht wahnsinnig?»

Es sind viele Monate vergangen, seit Johnson dem von seiner Tory-Partei hochgeschätzten Prinzip der geringstmöglichen staatlichen Intervention zuliebe seinen Fahrplan zur Aufhebung der Covid-Massnahmen bekannt gegeben hat. Der 19. Juli wurde als «Tag der Grossen Freiheit» angekündigt – der Tag, an dem endlich wieder Normalität einkehren dürfe.

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zVg

Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Künzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».

Während der ersten zwölf Pandemie-Monate hatte Johnson oft den Eindruck erweckt, politische Effizienz über die Ratschläge seiner wissenschaftlichen Berater zu stellen. So stellte er die Forderung der Labour-Partei, an Weihnachten keine Lockdown-Lockerung zu gestatten, als gemeinen Versuch dar, den Briten das kleine bisschen Freude zu verbieten, das ihnen noch geblieben sei – nur um später feststellen zu müssen, dass die grosse Xmas-Party einen Rattenschwanz von unangenehmen Folgen nach sich zog.

Jetzt steht er vor einer ähnlichen Situation. Der 19. Juli wurde in Stein gemeisselt. Nur ist mit der Delta-Variante nun eine neue Covid-Mutante auf den Plan getreten, auf die man nicht vorbereitet war. Erneut schnellen die Fallzahlen rasant in die Höhe. Um die 50'000 tägliche Neuansteckungen werden derzeit vermeldet – so viele wie seit Mitte Januar nicht mehr.

Todesfälle sind zwar deutlich weniger zu verzeichnen (in der vorletzten Woche waren es noch 257). Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind doppelt geimpft. Aber das ursprünglich vor allem älteren Semestern vorbehaltene Virus grassiert inzwischen auch unter Jugendlichen. Hinzu kommt, dass die Langzeitfolgen erst jetzt langsam zum Vorschein kommen und den Gesundheitsdienst NHS weiterhin arg unter Druck setzen.

Johnson befindet sich in einer Zwickmühle: Einerseits glaubt er, am Versprechen des 19. Juli partout festhalten zu müssen. Andererseits muss er Angst haben, dass ihm eine weitere Covid-Welle auch einen weiteren Lockdown aufzwingen könnte. Seine Lösung wie schon vor einem Jahr: an den gesunden Menschenverstand der Nation zu appellieren.

«Der Umgang mit Covid ist jetzt gesetzlich nicht mehr geregelt.»

Die Pandemie sei noch keineswegs vorbei, erklärte Johnson zuletzt im Brustton besorgter Überzeugung. Derweil der Umgang mit Covid jetzt nicht mehr gesetzlich geregelt sei, würde er dennoch dringlichst anraten, in der Öffentlichkeit weiterhin auf Distanz zu gehen, im Homeoffice zu arbeiten und zumindest in Zug und Bus – wenn nicht sogar in den Läden! – Maske zu tragen.

Diverse Städte und Ladenketten sind aus eigener Initiative einen Schritt weiter gegangen und halten am Maskenzwang fest. Allerhand Handelsorganisationen und Gewerkschaften beklagen sich bitterlich über die Ungewissheit und die unklare Verantwortungslage. Quarantäne für Covid-Kranke sowie Selbstisolation für Menschen, die mit ihnen in Kontakt gekommen sind, bleiben bestehen.



Nun ist ein neues Problem aufgetaucht: Jetzt, wo die App, die es erlaubt, den Weg von Ansteckungen zurückzuverfolgen, endlich funktioniert, funktioniert sie schon fast allzu gut. Eine halbe Million Briten wurden in der vergangenen Woche mit dem berüchtigten Ping-Ton darauf aufmerksam gemacht, dass sie mit dem Virus in Kontakt gekommen seien und sich unverzüglich elf Tage lang isolieren müssten. Die daraus resultierenden Personalengpässe drohen, das Land erneut ins Chaos zu stürzen.

Aber siehe da: Boris Johnsons Appell an den gesunden englischen Menschenverstand trägt bereits Früchte. Aus Angst, ein Ping zu erhalten, soll ein Fünftel der Handy-Benützer, welche die NHS-App heruntergeladen hatten, diese wieder gelöscht haben.

Ja, der gesunde englische Menschenverstand: Die Bilder von der Sauf-Schlacht, die dem Final der Fussball-EM in den Strassen von Wembley vorausging, zeigen deutlich, wie weit es damit her ist.

Und nun soll ich mich also gemäss Boris Johnson auf meinen gesunden Menschenverstand verlassen und darauf zählen, dass meine Umwelt die Sache mit diesem Verstand ganz ähnlich sieht wie ich? Nein danke!