Mittelmeer und Kaukasus «Kopfschuss für Armenien» – das gefährliche Spiel der Türkei

Von Philipp Dahm

16.10.2020

Armenier suchen Anfang Oktober Schutz in der Heilige-Mutter-Gottes-Kathedrale in Stepanakert in Bergkarabach.
Armenier suchen Anfang Oktober Schutz in der Heilige-Mutter-Gottes-Kathedrale in Stepanakert in Bergkarabach.
Bild: AFP

Von einer Waffenruhe sind Armenien und Aserbaidschan weit entfernt: Die USA haben sich inzwischen für eine Seite entschieden, während die Türkei weiter Öl ins Feuer giesst. Der Ruf nach Sanktionen wird lauter.

Eigentlich sollte ja seit dem 10. Oktober eine Waffenruhe gelten, die Russland und Türkei vermittelt haben. Doch Aserbaidschan und Armenien haben dem offenbar nur zugestimmt, um ihre Schutzmächte nicht zu verprellen und ihnen eine internationale Blamage zu ersparen. Noch am selben Abend habe Armenien den Artilleriebeschuss wieder aufgenommen, behauptet zumindest Aserbaidschan. Eriwan bestreitet das.

Inzwischen sind die Kämpfe wieder im vollen Gange: In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag soll Baku Kurzstreckenraketen vom Typ SS-21 Scarab auf armenischem Gebiet zerstört haben: Der Angriff wäre theoretisch ein Bündnisfall für den armenisch-russischen Verteidigungspakt. Zuvor hatte Aserbaidschan erneut mehrere Ortschaften eingenommen.

Armenische Abschussrampe OTR-21 Tochka, die bei der Nato SS-21 Scarab heisst.
Armenische Abschussrampe OTR-21 Tochka, die bei der Nato SS-21 Scarab heisst.
Bild: WikiCommons/KarenWunderkind

Der Anführer der umkämpften Region Bergkarabach teilte mit, dass es Aserbaidschan gelungen sei, die Front tief in das Konfliktgebiet zu verschieben. Eriwan räumte ein, dass das gegnerische Militär Gebiete unter seine Kontrolle gebracht habe: Es war die erste offizielle Bestätigung dieser Art. Es scheint, als gewinne Aserbaidschan militärisch die Oberhand in dem Konflikt.

Gleichzeitig mehren sich Berichte über Kriegsverbrechen. So soll ein Video zeigen, wie aserbaidschanische Militärs im Stile des sogenannten Islamischen Staates zwei gefesselte Soldaten exekutieren, die in armenische Fahnen eingebunden sind.

Ausserdem wirft Eriwan Baku vor, Spitäler und andere zivile Einrichtungen beschossen zu haben. Aserbaidschan wiederum beschuldigt Armenien, während einer gestrigen Beerdigung einen Friedhof unter Artilleriebeschuss genommen zu haben.

USA ergreifen Partei

Während Russland aber noch immer beide Seiten zur Vernunft ruft, haben sich die USA offenbar für eine Seite entschieden: Aussenminister Mike Pompeo sagte in einem Radiointerview, er hoffe, «dass sich die Armenier gegen das, was Aserbaidschan tut, verteidigen können». Gleichzeitig übte er Kritik an Ankara.

Ein Mann betet am 13. Oktober in der zerstörten Kathedrale der armenischen Stadt Shusha.
Ein Mann betet am 13. Oktober in der zerstörten Kathedrale der armenischen Stadt Shusha.
Bild: AFP

«Jetzt haben wir die Türken, die mitmischen, und Aserbaidschan versorgen», sagte Pompeo, «die das Risiko und die Feuerkraft in dem historischen Kampf um jenen Ort erhöhen, den man Bergkarabach nennt.» Die USA gehören neben Russland und Frankreich zur sogenannten Minsk-Gruppe, die zwischen den verfeindeten Parteien vermitteln soll.

Tatsächlich ist Washington von der Türkei ziemlich bedient: Einige US-Senatoren fordern sogar Sanktionen gegen Ankara, seit die Türkei am 8. Oktober griechische F-16-Kampfjets ins Visier ihrer S-400-Flugabwehrraketen genommen hat, deren Kauf von Russland in den USA ohnehin schon für Wirbel gesorgt hatte.

EU-Staaten drängen auf Türkei-Sanktionen

Auch in der EU werden Forderungen nach Sanktionen gegen die Türkei lauter – was neben den Feindseligkeiten gegen Griechenland vor allem mit dem Konflikt um Zypern zu tun hat. Die USA und Deutschland haben ergebnislos versucht, Recep Tayyip Erdoğan zur Räson zu bringen: Bundesaussenminister sagte eine für Mittwoch geplante Reise gen Osten kurzfristig ab.

Begräbnis eines armenischen Soldaten am 15. Oktober in Eriwan.
Begräbnis eines armenischen Soldaten am 15. Oktober in Eriwan.
Bild: AFP

Frankreich gilt in der EU als grösster Kritiker des türkischen Präsidenten. Die französische Abgeordnete des Europaparlaments Nathalie Loiseau betonte gegenüber «Euronews» jedoch, dass alle EU-Mitglieder in Ankara ein ernstes Problem sähen. Die EU-Staatschefs treffen sich am heutigen Freitag in Brüssel zu Beratungen.

Loiseau weiter: «Die Türkei hält militärische Manöver im östlichen Mittelmeer [mit Russland], in Libyen, in Syrien und in Bergkarabach ab. Worauf warten wir noch, um ein starkes Signal zu senden? Ich lege dem Europarat dringend nahe, die Naivität und Passivität abzulegen und sich mit Taten der Unterstützung für Griechenland und Zypern einzusetzen. Mit Taten meine ich Massnahmen wie Sanktionen.»

Armenier in Istanbul in Angst

Präsident Erdoğan macht jedoch bisher keine Anstalten, Kompromisse zu finden. Im Gegenteil: Die Stimmung in der Türkei lädt sich immer mehr negativ auf. Das bekommen die Armenier in der Türkei zu spüren: Nationalisten setzen die Minderheit in Istanbul immer mehr unter Druck. Autokonvois, die mit aserbaidschanischen und türkischen Fahnen behängt hupend durch armenische Viertel fahren, sind da noch das kleinste Problem.

Hass tritt immer offener zutage: Ein armenischer HDP-Abgeordnete im türkischen Parlament berichtet von Todesdrohungen. Garo Paylan warnte, dass Beleidigungen und Einschüchterungen extrem zugenommen hätten. Die Lage erinnere ihn an die Zeit vor dem Genozid an den Armeniern zwischen 1914 und 1923.

Viele Armenier in Istanbul und anderswo hätten Angst und versuchten, das Land zu verlassen. Dass diese Ängste nicht unbegründet sind, zeigte sich bald darauf im Istanbul, als Ultranationalisten versuchten, den Stadtteil Osmanbey zu stürmen, was jedoch von der Polizei verhindert worden ist.

Verbales Sperrfeuer

Türkische Politiker wie der Führer der nationalistischen MHP giessen derweil noch mehr Öl ins Feuer: «Bergkarabach sollte nicht am Verhandlungstisch genommen werden, sondern durch einen Kopfschuss für Armenien», sagte Devlet Bahceli.

Moskau hält sich im Kaukasuskonflikt zurück – noch. Dass Wladimir Putin am 10. Oktober überhaupt auf eine Waffenruhe gedrängt hat, könnte mit Berichten zusammenhängen, nach denen Aserbaidschan armenische Flugabwehrstellungen mit S-300-Raketen zerstört haben soll. Russland sieht es als grösster Exporteur solcher Waffen nicht gern, wenn die Systeme aus heimischer Produktion auf einem Schlachtfeld zerstört werden. 

Zudem will Putin keinen Ärger mit dem Iran, der eine grosse aserbaidschanische Minderheit beherbergt. Was jedoch für Putin zu einem viel grösseren Problem werden könnte, sind islamistische Kämpfer, die in die Region strömen: Nachdem die Türkei syrische Söldner nach Aserbaidschan gebracht haben soll, hat nun auch der afghanische Warlord Gulbuddin Hekmatyar angekündigt, Baku mit Kämpfern unterstützen zu wollen.

Russische Manöver im Kaspischen Meer

Nun hat Russland Manöver im Kaspischen Meer angeordnet: Es werde seit Freitag nördlich der Halbinsel Apscheron abgehalten, auf der die aserbaidschanische Hauptstadt Baku liegt, teilte das russische Verteidigungsministerium der Agentur Interfax zufolge mit. An der Übung seien sechs Schiffe, sieben Flugzeuge und mehr als 400 Soldaten beteiligt. 

Bei dem Manöver im Kaspischen Meer sollen russischen Angaben zufolge bordgestützte Raketen auf Ziele in der Luft und auf See abgefeuert werden. Dabei gehe es auch um Schutz und Verteidigung etwa von Handelsschiffen und Häfen sowie um die «Vernichtung» illegaler bewaffneter Gruppen.

Im vergangenen Jahr wurde eine vergleichbare Militärübung zu Land in Dagestan am Kaspischen Meer abgehalten, die in Aserbaidschan mit Argwohn beobachtet worden sind. Die Aktion könnte als Fingerzeig gen Baku gewertet werden.

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