Trügerische Ruhe in KiewKrieg, Schuld und letzte Küsse
Von John Leicester, AP
13.6.2022 - 00:00
Während im Osten und Süden der Ukraine der Krieg gegen die russischen Angreifer tobt, herrscht in der Hauptstadt verhältnismässige Ruhe. Das sorgt für gemischte Gefühle unter den Einwohnern im bitteren Sommer des Jahres 2022.
Von John Leicester, AP
13.06.2022, 00:00
AP/toko
Im Outdoor-Fitnessstudio am Venice Beach arbeitet Serhij Tschornji an seinem Sommerkörper. Gemeint ist nicht der gleichnamige Sandstrand in Los Angeles, sondern ein einladender, sandiger Abschnitt am majestätischen Fluss Dnjepr, der durch die ukrainische Hauptstadt Kiew fliesst. Immer wieder zieht Tschornji die von Gewichten beschwerte Eisenstange nach unten.
Ziel der schweisstreibenden Übung ist nicht, die jungen Frauen in ihren Sommer-Bikinis zu beeindrucken. Sein Training ist Teil seines Beitrags zu den ukrainischen Kriegsanstrengungen. Denn das Mitglied der Nationalgarde rechnet damit, bald auf die Schlachtfelder im Osten geschickt zu werden. Seinen Bauch will er nicht mitnehmen, wenn er in den Kampf gegen die russischen Invasionstruppen zieht.
Kiews bitterer Sommer
«Ich bin hier, um mich in Form zu bringen, um meinen Freunden helfen zu können, mit denen ich zusammen sein werde», sagt der 32-Jährige. «Ich spüre, dass mein Platz jetzt dort ist... Es bleibt nur noch eines: zu verteidigen. Es gibt keine andere Option, nur einen Weg.»
In Kiews bitterem Sommer des Jahres 2022 scheint die Sonne, aber es herrschen Traurigkeit und grimmige Entschlossenheit. Knutschende Paare können sich nicht sicher sein, dass ihre Küsse nicht die letzten sein werden, während sich weitere Soldaten Richtung Front aufmachen. Flinke Schwalben nisten, wo obdachlos gewordene Menschen in zerstörten Ruinen weinen. Der Frieden in der Hauptstadt ist trügerisch, weil ihm der Seelenfrieden fehlt.
Nachdem der ursprüngliche Angriff Moskaus auf Kiew zurückgeschlagen wurde und Tod und Zerstörung hinterliess, fand sich die Stadt in der unbequemen Situation wieder, weitgehend zum Zuschauer des Krieges zu werden, der weiterhin im Osten und Süden des Landes tobt, auf die der russische Präsident Wladimir Putin seine Streitkräfte und militärischen Ressourcen umgeleitet hat.
Cafés und Restaurants haben wieder geöffnet
Die ausgebrannten Wracks russischer Panzer werden von den Aussenbezirken der Hauptstadt weggeschleppt. An der Front kommen vom Westen gelieferte Waffen zum Einsatz. Cafés und Restaurants haben wieder geöffnet. Das Klirren der Gläser an den Aussentischen vermittelt einen Anschein von Normalität – bis alle sich nach Hause begeben, wegen der Ausgangssperre, die von 23 Uhr bis 5 Uhr morgens gilt.
Es sehe aus, als ob es keinen Krieg gebe, doch die Menschen redeten über ihre Freunde, die verletzt seien oder mobilisiert würden, sagt Andrij Baschtowji, als er mit Freunden auf einer Wiese sitzt und Wein trinkt. Auch er wurde jüngst gemustert und für tauglich befunden, was bedeutet, dass er bald in den Kampf geschickt werden könnte. «Wenn sie mich anrufen, muss ich zum Rekrutierungszentrum gehen. Ich werde zwölf Stunden Zeit haben», sagt der Chefredakteur des Onlinemagazins The Village, das über Gesellschaftsthemen, Nachrichten und Veranstaltungen in Kiew und anderen unbesetzten Städten berichtet.
Luftangriffsalarm ist regelmässig zu hören, schrill tönt er auch aus Mobiltelefon-Apps. Doch in Kiew folgen – anders als in Städten und Dörfern an der Front – so selten Explosionen, dass nur wenige ihm Beachtung schenken. Angriffe mit Marschflugkörpern, die am 5. Juni ein Lagerhaus und eine Zugwerkstatt trafen, waren die ersten auf Kiew binnen fünf Wochen. Menschen führten ihre Hunde in der Nähe aus und Eltern schoben dort wieder Kinderwagen, noch bevor die Flammen gelöscht waren.
Geflüchtete kehren nach Kiew zurück
Viele der nach Angaben des Bürgermeisters Vitali Klitschko zwei Millionen aus der Stadt geflüchteten Einwohner während des russischen Einkreisungsversuchs im März kehren jetzt zurück. Doch angesichts der vielen Soldaten, die im Osten und Süden sterben, ist die surreal anmutende Ruhe in Kiew von quälenden Schuldgefühlen begleitet.
«Die Leute sind dankbar, fragen sich aber: «Tue ich genug?"», sagt Sneschana Wialko, als sie mit ihrem Freund Denys Koreiba pralle Erdbeeren bei einem der vielen Obsthändler kauft, die wieder die Viertel bevölkern, die Wochen zuvor von Kontrollposten, Sandsäcken und Panzersperren geprägt waren.
Die nun weniger wachsamen und weniger angespannten Soldaten – zumal in kleinerer Zahl – winken jetzt durch das wiederhergestellte Summen des Autoverkehrs und blicken kaum auf, weil sie sich in ihren Mobiltelefonen scrollend die Zeit vertreiben.
Angesichts des zerbrechlichen, doch hochgeschätzten Friedens in Kiew widmen viele ihre Energie, Zeit und Geld der Unterstützung von Soldaten, die sich im Zermürbungskrieg um die Kontrolle über zerstörte Dörfer und Städte befinden. Der ausgebildete Koch Wolodymyr Denysenko, der inzwischen als Journalist arbeitet, braute 100 Flaschen scharfe Sauce und liess sie an die Front bringen, um die Ernährung der Kämpfer zu beleben.
Er setzte sie bei Freiwilligen ab, die in Konvois von Kiew in die Kampfgebiete fahren, um dringend benötigte Ausrüstung dorthin zu bringen. «Alle Ukrainer müssen der Armee helfen, den Soldaten», sagt er. «Es ist unser Land, unsere Freiheit.»