Folter, Mord, Vergewaltigung Experten in der Ukraine auf den Spuren von Putins Kriegsverbrechen

SDA/amo

18.2.2023 - 23:55

Nach Gräueltaten von Butscha: «Ich möchte nicht in Kleinrussland leben»

Nach Gräueltaten von Butscha: «Ich möchte nicht in Kleinrussland leben»

Der Kiewer Vorort Butscha ist zu einem Mahnmal für mutmassliche Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine geworden. Die Bewohner bemühen sich Wochen nach den schrecklichen Ereignissen um Normalität.

12.07.2022

Nicht weniger als 70'000 Kriegsverbrechen wirft die Ukraine Russland vor. Ein Jahr nach Kriegsbeginn laufen Ermittlungen wegen Folter, Mord und Vergewaltigung. Doch die Arbeit ist kompliziert. 

Keystone-SDA, SDA/amo

Selbst unter dem Eindruck schwerster Gewalttaten hält sich der deutsche Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann mit voreiligen Schlüssen zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine zurück. «Unser Ansatz ist immer: weit und offen zu ermitteln, was passiert ist. Auch genau zu dokumentieren, wie welche Zivilisten in irgendwelchen Orten gefangen genommen, vergewaltigt, getötet worden sind», sagt der 49-Jährige der Deutschen Presse-Agentur in Kiew.

Seit dem Sommer berät der Jurist aus Freiburg die Ukrainer bei den Ermittlungen zu Kriegsverbrechen. Deren Zahl gibt die Regierung in Kiew nach fast einem Jahr Krieg mit 70'000 an. Die Bilder der Leichen im Hauptstadt-Vorort Butscha, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren, und anderer Bluttaten gingen um die Welt. Inzwischen hat die Ukraine auch eine Internetseite eingerichtet, die Zeugnis gibt von den Zerstörungen, vom Leid der Zivilbevölkerung. Auch Opfer kommen zu Wort. Zeugen können sich melden.

Der Friedhof in Butscha im Mai 2022. Über 1235 getötete Zivilisten sind nach dem Massaker in Butscha begraben worden. 
Der Friedhof in Butscha im Mai 2022. Über 1235 getötete Zivilisten sind nach dem Massaker in Butscha begraben worden. 
Keystone (Archivbild)

Befehlsketten ermitteln, Verantwortliche finden 

Der Jurist Hoffmann, der immer wieder aus Baden in die Ukraine reist, sieht im Fall Butscha «viele Beweismittel» – auch, weil die Russen den Ort im Frühjahr Hals über Kopf verliessen. Oft sei es aber nicht einfach, Kriegsverbrechen nachzuweisen – also Verbrechen, bei denen es nicht um militärische Ziele ging, sondern um zivile Opfer. Mehr als 7000 tote Zivilisten haben die Vereinten Nationen in dem Krieg bisher registriert. Die tatsächliche Zahl liegt wohl höher.

Hoffmann, Mitglied einer internationalen Expertengruppe, half dabei, einheitliche Fragenkataloge für die Vernehmung von Kriegsgefangenen zu erstellen. So wollen Ermittler nicht nur erfahren, «warum und wie jemand möglicherweise einen Zivilisten erschossen hat, sondern auch die Hintergründe erfragen, Wissen abfragen über die Kommandostrukturen, wann, mit wem sie in die Ukraine gekommen sind».

Vor allem geht es darum, Befehlsketten zu ergründen, um die Verantwortlichen zu finden und Schuld zu klären – bis hin zu Kremlchef Wladimir Putin. Hoffmann: «Am Ende ist es die Frage: Wie können für bestimmte Verbrechen Putin oder sein Verteidigungsminister, der Generalstabschef, der oberste General oder zumindest eine Ebene darunter vor Gericht gestellt werden?»

Computersimulationen sollen Spurensuche erleichtern

Einfach ist das nicht. Das zeigt auch die ARD-Dokumentation «Anklage gegen Putin? – die Spur der Kriegsverbrechen in der Ukraine». Dort zeichnet der Autor Christian Hans Schulz nach, wie Experten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) mit Computersimulationen, Satellitenaufnahmen und Zeugenaussagen Raketenangriffe aufklären.

Nach dem Abzug russischer Truppen aus der von April bis September besetzten Stadt Isjum im Osten der Ukraine wurde bekannt, dass Dutzende Zivilisten in einem von einer russischen Rakete getroffenen Hochhaus getötet wurden. In der Stadt wurden auch Folterkeller entdeckt. Hunderte Leichen wurden in Gräbern verscharrt, teils mit Spuren schwerer Misshandlungen.

HRW veröffentlicht immer wieder Berichte zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Kriegszeiten. So verurteilte die Organisation den Einsatz verbotener Landminen, sowohl durch Russland als auch die Ukraine. Zwar ist Russland – anders als die Ukraine – dem Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen nicht beigetreten. Trotzdem verstösst deren Einsatz HRW zufolge gegen das Völkerrecht.

Einzelne Täter sind möglicherweise längst tot 

In dem Film erinnern die HRW-Experten Richard Weir und Sam Dubberley auch an den verheerenden Einsatz von Streumunition auf dem Bahnhof Kramatorsk im Gebiet Donezk im April. Dort wollten Hunderte Menschen mit dem Zug fliehen, als eine Rakete einschlug und Dutzende kleine Geschosse freisetzte. «Deswegen sind 61 Menschen gestorben», sagt Dubberley.

Oberstaatsanwalt Hoffmann macht deutlich, dass es jetzt vor allem darum geht, Beweise zu sammeln und Zeugenaussagen auf Video festzuhalten. Auch mögliche ukrainische Verbrechen müssten ermittelt werden. «Der Fokus liegt heute darauf, alles sicher zu dokumentieren, so dass man es auch in 20, 30 oder 40 Jahren vor Gericht verwendet werden kann.» Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass nicht alles aufgeklärt werden könne und vor Gericht kommen werde. «Man muss natürlich sehen, dass einzelne Soldaten, die als Täter identifiziert wurden, möglicherweise längst tot sind.»

Russland bleibt seiner Linie treu

Und Russland? Der Machtapparat in Moskau bleibt seiner Linie treu, Vorwürfe zurückzuweisen oder der Ukraine die Verbrechen zuzuschreiben. So beklagt Moskau die Hinrichtung russischer Kriegsgefangener oder die Stationierung ukrainischer Panzer und anderer militärischer Ziele in Wohnvierteln und Schulen. Vor allem versucht Russland den Einmarsch immer wieder damit zu rechtfertigen, dass im Osten der Ukraine bereits seit 2014 Blut fliesst, dass Kiew bereits damals Truppen schickte, um prorussischen Separatisten in der Region Donbass zu bezwingen.

Schon seit acht Jahren wirft Moskau Kiew vor, die russischsprachige Bevölkerung im Donbass mit Waffengewalt an Selbstbestimmung hindern zu wollen. Das russische Aussenministerium zeigt auf seiner Internetseite eine Sammlung nicht überprüfbarer Bilder von Zerstörungen und Blut, die ukrainische Verbrechen belegen sollen.

Aus Moskauer Sicht war das Vorgehen Kiews gegen das Russische und andere Sprachen nationaler Minderheiten der Funke, der den Konflikt ausbrechen liess. Minderheiten beklagen, dass im Zuge des Sturzes des moskaufreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch 2014 an die Macht gekommenen Kräfte ihre Rechte beschneiden.

Moskau erkennt Internationalen Strafgerichtshof nicht an

Doch eine Rechtfertigung für diesen Krieg gibt für die Experten es nicht. Aus deren Sicht ist die Zahl russischer Kriegsverbrechen so hoch, dass es nun vor allem darum geht, einzelne konkrete Taten möglichst lückenlos aufzuklären. Der Völkerrechts-Professor Claus Kress von der Universität Köln sagt in dem ARD-Film, dass für eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein sehr klarer Fall gefunden werden müsse. Das sei schwierig.

Russland erkennt die Zuständigkeit des Gerichts nicht an. Zudem gilt die Immunität Putins und anderer russischer Funktionäre als Hindernis. Auch deshalb wird international immer intensiver ein Sondertribunal diskutiert, weil das Verbrechen des Angriffskriegs oder der Aggression als leichter zu belegen gilt.

«Man kann sagen, der russische Angriffskrieg ist die Ursünde, aus dem dann die ganze Flut weiterer Straftaten hervorgegangen ist», resümiert Kress. «Beim Verbrechen der Aggression geht es darum, diejenigen Staatsführer zur Rechenschaft zu ziehen, die in offenkundiger Verletzung des Völkerrechts die Entscheidung zum Krieg treffen», so der Völkerrechtler. «Es nimmt der Grausamkeit jedes einzelnen Kriegsverbrechens nichts, wenn man feststellt: Ohne die Entscheidung zum Angriffskrieg wären die Tore zu all den vielen Grausamkeiten im Krieg gar nicht erst geöffnet worden.»