Kanzlerin Angela Merkel sieht im Gedenken an die Opfer des Holocaust eine «immerwährende Verantwortung Deutschlands» – für heutige und künftige Generationen. «Ich empfinde tiefe Scham angesichts des Zivilisationsbruchs der Schoa, den Deutschland während des Nationalsozialismus begangen hat», sagte die CDU-Politikerin am Mittwoch in einer Videobotschaft zu einer Veranstaltung der Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken, der Vereinten Nationen (UN) und der UN-Kultur- und Bildungsorganisation Unesco zum Holocaust-Gedenktag. «Offenem wie auch verdecktem Antisemitismus, der Leugnung wie auch der Relativierung des Holocaust müssen wir uns mit aller Entschiedenheit entgegenstellen», verlangte Merkel. Besonders dankte die Kanzlerin den Überlebenden, die die Kraft aufbringen würden, ihre Lebensgeschichten zu erzählen.
Seit 16 Jahren gedenken die Vereinten Nationen am 27. Januar den Opferns des Holocaust. An diesem Tag erreichte die Rote Armee 1945 das deutsche Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und befreite mehr als 7000 überlebende Häftlinge. Die Nationalsozialisten und ihre Helfer hatten während des Zweiten Weltkrieges sechs Millionen Juden ermordet. Seit 1951 erinnert Israel am Holocaust-Gedenktag an die Opfer.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble warnte vor neuen Formen von Rassismus und Antisemitismus. «An Gedenktagen wird stets Verantwortung angemahnt, aber werden wir ihr auch gerecht? Auch bei uns zeigen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wieder offen, hemmungslos, auch gewaltbereit», warnte der CDU-Politiker am Mittwoch im Bundestag in einer Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus. Daran nahmen auch Vertreter der jüdischen Gemeinschaft sowie die Repräsentanten der Verfassungsorgane teil.
Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, berichtete in bewegenden Worten vom Leid ihrer Familie in der NS-Zeit. Sie erzählte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, als die Hausmeisterfrau zu ihr sagte: «Judenkinder dürfen hier nicht spielen.» Wie der Schulweg zum Spiessrutenlauf voller Anfeindungen wurde. Wer die heutigen Corona-Massnahmen mit dem vergleiche, was die Juden einst in Deutschland ertragen mussten, der «verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Schoa», sagte sie.
«Wir dürfen stolz sein auf unsere Bundesrepublik, (...) aber wir müssen sie wehrhaft verteidigen», forderte Knobloch. Antisemitisches Gedankengut und Verschwörungsmythen erhielten wieder mehr Zuspruch – von der Schule bis zur Corona-Demonstration. In ihrem Bekanntenkreis spielten etliche Juden inzwischen mit dem Gedanken, auszuwandern.
Auch international wurde vielerorts der Opfer des Holocaust gedacht. Polens Präsident Andrzej Duda bezeichnete es als Pflicht seines Landes, das Gedenken an die Opfer zu bewahren. «Es ist unsere Pflicht, alle materiellen Beweise, Erinnerungsstücke und Zeichen ihrer Existenz, ihres Lebens und ihres Martyriums zu erhalten, damit die Menschheit sie nie vergisst», sagte Duda in einer Rede zur Feier der Gedenkstätte Auschwitz, die wegen der Corona-Pandemie online stattfand. «Die Wahrheit über den Holocaust und das Gedenken daran werden ewig währen», sagte Duda.
Im Mittelpunkt der Feierlichkeiten der Gedenkstätte standen dieses Jahr die Kinder, die in Auschwitz inhaftiert waren und ermordet wurden. Nach Schätzungen wurden mindestens 232 000 Kinder und Jugendliche nach Auschwitz deportiert, die meisten von ihnen jüdischen Glaubens. Mehr als 200 000 überlebten das Lager nicht. Im Januar 1945 wurden dort mehr als 700 Kinder befreit.
US-Präsident Joe Biden versprach, sich mit Blick auf die Schrecken des Holocausts stets für die Verhinderung weiterer Völkermorde einzusetzen. Israels Präsident Reuven Rivlin rief zum weltweiten Kampf gegen Antisemitismus auf. Europaparlamentspräsident David Sassoli forderte bei einer digitalen Gedenkzeremonie ein beherztes Engagement für ein demokratisches Europa.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Israels Präsident Reuven Rivlin und EU-Ratspräsident Charles Michel zollten den Überlebenden zudem mit einer Videobotschaft Respekt. Diese stünden «für den Triumph der Menschlichkeit über den Hass», ihre innere Stärke sei «eine Inspiration für uns alle». Zugleich erklärten sie: «Wir erneuern unser Versprechen, dass ihr Vermächtnis fortbestehen und ihr Zeugnis für immer ein Bollwerk gegen all jene sein wird, welche die Vergangenheit leugnen.»
Schäuble beklagte in seiner Rede im Bundestag, dass jüdische Einrichtungen von der Polizei geschützt werden müssten. «Juden verstecken ihr Kippa, verschweigen ihre Identität. In Halle entkam die jüdische Gemeinde nur durch einen Zufall einem mörderischen Anschlag», sagte er. Nach Jahrzehnten der Zuwanderung dächten deutsche Juden über Auswanderung nach.
«Und das beschämt uns. Es ist niederschmetternd, eingestehen zu müssen, unsere Erinnerungskultur schützt nicht vor einer dreisten Umdeutung oder sogar Leugnung der Geschichte», warnte Schäuble. «Und sie schützt auch nicht vor neuen Formen des Rassismus und des Antisemitismus, wie sie sich auf Schulhöfen, in Internetforen oder in Verschwörungstheorien verbreiten.»
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