Deutschland Merz statt Scholz in Kiew – «Schön, in diesem Land zu sein»

SDA

3.5.2022 - 19:19

Friedrich Merz in Irpin. Foto: -/Ukrinform/dpa
Friedrich Merz in Irpin. Foto: -/Ukrinform/dpa
Keystone

CDU-Chef Friedrich Merz ist beim ersten Besuch eines deutschen Spitzenpolitikers in Kiew seit Kriegsbeginn überraschend vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj empfangen worden. Die beiden sprachen am Dienstag miteinander. Der Oppositionsführer im Bundestag bedankte sich anschliessend auf Twitter beim Staatschef «für den herzlichen Empfang und das atmosphärisch und inhaltlich aussergewöhnlich gute Gespräch». Merz sicherte dem von Russland attackierten Land zudem die volle Solidarität Deutschlands zu: «Deutschland steht an der Seite der Ukraine und ihrer mutigen Bevölkerung.»

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Das Treffen Selenskyjs mit dem deutschen Oppositionsführer ist protokollarisch äusserst ungewöhnlich und kann auch als Signal in Richtung Bundesregierung verstanden werden. Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die bald ebenfalls nach Kiew reisen will, war bei ihrem letzten Besuch in der Stadt kurz vor dem Krieg nicht von Selenskyj empfangen worden. Schon damals war die ukrainische Regierung verärgert über die Russland-Politik der Bundesregierung.

Nun wirft sie vor allem Kanzler Olaf Scholz (SPD) zu starke Zurückhaltung bei den Waffenlieferungen in die Ukraine vor. Scholz lehnte erst am Montagabend in einem Interview eine Reise nach Kiew ab, weil Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April kurzfristig ausgeladen worden war. Dafür kritisierte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk den Kanzler scharf. «Eine beleidigte Leberwurst zu spielen klingt nicht sehr staatsmännisch», sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. «Es geht um den brutalsten Vernichtungskrieg seit dem Nazi-Überfall auf die Ukraine, es ist kein Kindergarten.»

Parteiübergreifend wurde der verbale Angriff allerdings verurteilt. «Olaf Scholz ist keine Wurst, er ist der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland», sagte FDP-Vize Wolfgang Kubicki der dpa zum Beispiel.

Merz erlebte in Kiew, dass der Krieg auch in der ukrainischen Hauptstadt weiterhin präsent ist. Am Nachmittag gab es den ersten Luftalarm seit dreieinhalb Tagen. Der CDU-Chef war am Vormittag mit dem Zug in Kiew eingetroffen. «Eine Nacht im Schlafwagen auf dem Weg nach Kiew», sagt er in einem per Twitter verbreiteten 17-Sekunden-Video, das ihn im Zugabteil mit Wasserflaschen auf dem Tisch und draussen vorbeiflirrenden Bäumen zeigt. Wir haben eine interessante Reise vor uns und bis jetzt kann ich nur sagen: Alles sicher, alles gut und die ukrainischen Behörden sind äusserst kooperativ. Sehr angenehme Menschen. Es ist schön, in diesem Land zu sein.»

Die Frage ist: Was macht Merz dort eigentlich? Die ukrainische Seite hat in den vergangenen Wochen immer wieder deutlich gemacht, dass sie vor allem an einem interessiert ist: militärische Unterstützung in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland. Beispielsweise in Form von Kampfpanzern oder Artillerie. Melnyk bringt es zeitgleich mit der Merz-Reise so auf den Punkt: «Worauf sich die Ukraine viel mehr als auf alle symbolischen Besuche freuen würde, ist, dass die Ampel-Regierung den Antrag des Bundestages über die Lieferung von schweren Waffen zügig umsetzen wird und die bisherigen Zusagen erfüllt.» Neue Waffenzusagen kann der Partei- und Fraktionschef aber nicht machen. Die könnte allenfalls der Kanzler im Gepäck haben.

Am Vortag hatte Merz erklärt, er fahre auf Einladung des ukrainischen Parlaments. Er wolle sich mit Vertretern von Parlament und Regierung treffen und sich selbst ein Bild von der Lage vor Ort machen. Dazu besucht Merz am Dienstag zunächst Irpin im Grossraum Kiew. Die Stadt war in der ersten Phase des Krieges heftig umkämpft gewesen, von dort wurden ähnliche Gräueltaten russischer Soldaten wie in Butscha gemeldet. Merz lässt sich schildern, «was hier passiert ist, welche Opfer hier zu beklagen sind, aber auch welche grossartige Leistung der ukrainischen Armee und gerade dieser Einheit hier vollbracht worden ist», wie er in einem kurzen Statement sagt. «Ich kann nur sagen: jeden Respekt, grosse Anerkennung.»

«Ich denke, wir sind in Deutschland auch weiter verpflichtet, diesem Land weiter zu helfen und gerade einer solchen Stadt wie Irpin auch beim Wiederaufbau zu helfen», sagt Merz zwischen zerschossenen Häusern. Das wird man dort gern gehört haben.

Mancher Ampel-Politiker wird aber den Verdacht nicht los, es gehe Merz noch um etwas ganz anderes. Am kommenden Sonntag wird in Schleswig-Holstein gewählt und am Sonntag darauf – noch wichtiger – in Nordrhein-Westfalen. Während nach den Umfragen die Sache in Kiel klar auf einen CDU-Sieg hinausläuft, steht es in Düsseldorf Spitz auf Knopf. Die regierende CDU und die oppositionelle SPD liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen – Machtverlust für Ministerpräsident Hendrik Wüst nicht ausgeschlossen.

Merz in Kiew, Scholz in Meseberg – das sind die Bilder dieses Dienstags. Daraus lässt sich im Wahlkampf die Botschaft stricken: Die CDU treibt den SPD-Kanzler auch in dieser Frage vor sich her, so wie schon in der wochenlangen Debatte um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Zwar erklärt CDU-Generalsekretär Mario Czaja im Deutschlandfunk mit Blick auf die Reise: «Das hat mit den anstehenden Landtagswahlkämpfen rein wirklich gar nichts zu tun.» Doch gleichzeitig sagt der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, der «Rheinischen Post»: «Wochenlang hätten Scholz und seine Minister nach Kiew fahren und damit ein Zeichen der Solidarität setzen können. Jetzt muss es Merz tun.»

Gibt Merz also den Ersatzkanzler? Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, jedenfalls warnt davor, eine solche Reise aus parteipolitischen Beweggründen anzutreten. Es sei gut, wenn auch deutsche Politiker in die Ukraine reisten», sagt der SPD-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. «Aber sie müssen dafür gute Gründe haben. Ein schlechter Grund ist es, einen innenpolitischen Streit in die Ukraine zu tragen und sich dort parteipolitisch profilieren zu wollen.»