Die Stimmung an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist angespannt: Grössere Gruppen von Migrant*innen versuchten den Grenzzaun zu durchbrechen.
Minutenlang steht der Helikopter über dem Waldstück auf der Stelle, das Klopfen seiner Rotorblätter füllt die Luft. Unten am Boden glitzert in der Sonne ein provisorisches Bauwerk. Es ist der Stacheldrahtzaun, der Polens Grenze zu Belarus schützen soll. Davor, auf der polnischen Seite, stehen grüne Jeeps und Militärlaster. Dahinter, auf dem Gebiet von Belarus, stehen Menschen, die in die EU wollen. Zelte sind zu erkennen, zwischen Kiefern steigt der Rauch von Lagerfeuern auf. Näher heran an diese Szene kommt man nicht – Polen hat in der Grenzregion den Ausnahmezustand verhängt.
Die Stimmung ist angespannt rund um Kuznica an der polnisch-belarussischen Grenze. Am Montag haben hier nach Angaben polnischer Behörden grössere Gruppen von Migranten auf der belarussischen Seite vergeblich versucht, die Zaunanlage zu durchbrechen. Polnische Grenzer und Soldaten stoppten sie mit Tränengas. Nun kampieren die Flüchtlinge im Wald. Aus polnischer Sicht ist es jederzeit möglich, dass die Migranten erneut einen Grenzdurchbruch wagen könnten. Zehntausend Soldaten unterstützen die polnischen Grenzer bei ihrer Arbeit.
Mehrere tausend Menschen wurden gelenkt
Die Regierung in Warschau und die EU werfen dem autoritären belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, Menschen aus Krisenregionen wie Afghanistan und dem Irak einfliegen zu lassen, um sie dann in die EU zu schleusen. Die Situation in Kuznica sei ebenfalls das Werk von Lukaschenkos Regime, zeigt sich Polens Präsident Andrzej Duda am Dienstag überzeugt. Mehrere tausend Menschen – meist junge Männer – seien von belarussischer Seite gelenkt worden. Man habe sie von der Strasse in den Wald geführt, damit sie die Grenze an einer Stelle ohne Übergang angreifen könnten. Dies ergebe sich aus Videomaterial.
Den Grenzübergang zu Belarus in Kuznica hält Polen seit Dienstagmorgen geschlossen. Auf der Landstrasse, die von dem Ort Sokolka schnurgerade Richtung Osten zu dem Grenzübergang und der Zollabfertigungsstelle führt, ist drei Kilometer vor Kuznica Schluss. Polizisten in gelben Warnwesten stoppen jedes Fahrzeug, kontrollieren die Insassen, schauen in Laderäume und Kofferräume. Nur Ortsansässige lassen sie bis zur Grenze passieren. Am Strassenrand reihen sich Laster, viele mit belarussischen und russischen Kennzeichen. Der Verkehr soll ausweichen auf die Grenzübergänge in Terespol und Bobrowniki auszuweichen – rund 230 beziehungsweise 70 Kilometer entfernt. Bei Bobrowniki bildeten sich zeitweilig lange Staus.
«Heute flogen nur ein paar Steine. Sie sind in Sicherheit»
In der Region um Kuznica ist die Nervosität und Polens Angst vor einer möglichen Provokation des Nachbarn im Osten deutlich spürbar. Mannschaftswagen der Polizei jagen mit Blaulicht und Gejaule über die Landstrasse, Soldaten sind in Humvees und schweren Militärlastern unterwegs. Selbst die Grenzer sind mit schwarzen Militärhelmen ausgerüstet. «Ich habe mir gestern doch Sorgen um Sie gemacht», sagt die Frau an der Kasse der Wechselstube, als ein Grenzschützer hineinkommt. «Ach nein, über Nacht sind viele Soldaten zur Verstärkung gekommen, heute flogen nur ein paar Steine. Sie sind in Sicherheit», wiegelt der Mann ab.
Auch Polens Regierung beteuert immer wieder, die Lage sei unter Kontrolle. Man sei in Kontakt mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex – deren Hilfe beim Einsatz brauche man aber nicht.
Unterdessen schlagen das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und die UN-Organisation für Migration (IOM) Alarm angesichts der Zustände im Grenzgebiet. Sie fordern Warschau und Minsk auf, humanitären Helfern ungehinderten Zugang zu den Gestrandeten zu gewähren. Es müsse geprüft werden, wer Schutz brauche, und es müsse denen geholfen werden, die Asyl beantragen wollten.
Viele der Migranten wollen über Polen weiterreisen, nach Deutschland und in andere westliche Länder. Bis Montag zählte die Bundespolizei entlang der gesamten deutsch-polnischen Grenze 8833 unerlaubt Eingereiste seit Jahresbeginn. Davon kamen allein 5285 Personen im Oktober.
«Was denkt man denn in Deutschland, wie man die Sache lösen sollte?», fragt der polnische Grenzschützer die Besucher aus dem westlichen Nachbarland. Er nickt, als er hört, dass es dort durchaus die Ansicht gibt, man sollte den Menschen Asyl gewähren. «Am besten wäre es, die Flüchtlinge würden gleich in Moskau oder Minsk umsteigen – in einen Flieger nach Deutschland.»