TunesienNeuer Friedhof für ertrunkene Migranten füllt sich schnell
Von Mehdi el-Arem und Lori Hinnant, AP
23.6.2021 - 06:09
Sie sind Männer, Frauen und Kinder, ertrunken im Mittelmeer vor der tunesischen Küste, auf dem Weg nach Europa. Ein Künstler hat jetzt für diese Migranten einen eigenen Friedhof geschaffen – und wie es aussieht, werden die Plätze dort bald knapp werden.
Von Mehdi el-Arem und Lori Hinnant, AP
23.06.2021, 06:09
Von Mehdi el-Arem und Lori Hinnant, AP
Die meisten Grabsteine tragen Daten, aber keine Namen. Sie sind rein weiss, funkeln in der gleissenden Mittelmeersonne, Reihe für Reihe. Dieser neue Friedhof in der tunesischen Stadt Zarzis ist fast genau so, wie es sich der algerische Künstler Rachid Koraïchi vorgestellt hatte, als er den «Garten von Afrika» auf dem Papier entwarf – jenen Ort, der die letzte Ruhestätte für Hunderte anonymer Männer, Frauen und Kinder werden sollte.
Die Menschen, die hier einen Platz gefunden haben oder noch finden werden, sind tot an die Strände dieser Küstenstadt geschwemmt worden, Migranten, die die Bootsreise von Libyen in Richtung Europa nicht geschafft haben, in Küstennähe auf dem Mittelmeer verunglückt sind. Für Koraïchi war es Pflicht, «eine Beerdigungsstätte zu schaffen, eine mit Präsenz und Intelligenz, so dass die Familien, die Väter, Mütter, die Stämme und die Länder eines Tages wissen, dass ihre Kinder an einem himmlischen Ort sind, der erste Schritt zum Himmel», sagte der 74-Jährige der Nachrichtenagentur AP.
Zarzis liegt an der Küste jenes Mittelmeer-Abschnittes, den Migranten auf dem Weg nach Europa passieren – und wo sie oft enden, nachdem ihre Boote in den unberechenbaren Strömungen verloren gegangen sind. Einer der Friedhöfe in der Stadt ist schon ganz mit Menschen gefüllt, die sich auf die gefährliche Reise gemacht und es mit ihrem Leben bezahlt haben. Örtliche muslimische Friedhöfe sind ihnen verwehrt, die Einwohner von Zarzis wollen dort keine Migranten begraben haben.
Bruder des Künstlers ertrank im Mittelmeer
So kam denn Koraïchi zu dem Schluss, dass die neu Verstorbenen ihre eigene Ruhestätte benötigten und kaufte ein Stück Land zu Ehren seines Bruders, der selbst auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken war. «Sie starben in den selben Gewässern, im selben Meer und fielen dem selben Salz zum Opfer», sagte der Künstler.
Sein Friedhof eröffnete offiziell am 9. Juni mit einem Plan für 600 Gräber, aber Koraïchi hatte bereits seit 2019, kurz nach dem Kauf des Grundstücks, sterbliche Überreste von Migranten in Empfang genommen. So ist der Friedhof schon jetzt zu einem Drittel gefüllt. Koraïchi bezahlt die Bestattungen aus eigener Tasche.
Er pflanzte einen kleinen Garten inmitten eines Olivenhaines, gesprenkelt mit Granatapfelbäumen und duftendem Jasmin, durchbrochen von glasierten Fliesen und gewundenen Gehwegen. Insgesamt sind bislang etwa die Überreste von 600 Menschen auf den beiden Migranten-Friedhöfen bestattet worden. Nur drei Gräber haben Namen.
«Zu lange hat die Menschheit ihre Machtlosigkeit, ja ihre Gleichgültigkeit gezeigt, wenn Männer und Frauen ertrinken, und es gibt zu viele, die sich abwenden», sagte Audrey Azoulay, Generaldirektorin der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Unesco), die dem Friedhof bei einem Besuch am 9. Juni eine Statue stiftete.
Viele der Habseligkeiten von Migranten, die nach Schiffbrüchen an die Küste geschwemmt werden, sind in einem nahe gelegenen Museum aufbewahrt. Kleidung, Spielzeuge, Papierschnitzel von Personalausweisen – alles in allem mehr als 125 000 Zeugnisse von Menschenleben, die innerhalb von mehr als zwei Jahrzehnten auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa verloren wurden.
Mohsen Lihidheb, der Museumsgründer, ist besonders tief von den Schuhen betroffen, die an Land gespült wurden. «Dies sind die Schuhe, die auf dem Weg durch die libysche Wüste, der nicht einfach war, getragen wurden», sagt er. «Sie kamen nicht dazu, neue Schuhe in reichen Ländern zu erhalten, sondern starben im Meer mit diesen Schuhen an den Füssen.»
Seit Anfang dieses Jahres sind vor der Küste von Libyen bis Tunesien 677 Menschen auf ihrem Weg nach Europa ums Leben gekommen, wie aus Statistiken der Internationalen Organisation für Migration hervorgeht. War die Zahl im vergangenen Jahr zurückgegangen, weil sich aufgrund der Corona-Epidemie weniger Migranten auf die Reise gemacht haben, ist sie wieder beträchtlich angestiegen – trotz einer Reihe europäischer Massnahmen, Migranten fernzuhalten.