Österreich vor dem Lockdown «Ausmass an Radikalisierung, das in keiner Weise hinnehmbar ist»

dpa

22.11.2021 - 00:00

Am Samstag demonstrierten Zehntausende gegen den anstehenden Lockdown in Wien. 
Am Samstag demonstrierten Zehntausende gegen den anstehenden Lockdown in Wien. 
KEYSTONE

Zehntausende Österreicher demonstrierten am Wochenende gegen den Lockdown. Der Innenminister warnt vor einer steigenden Radikalisierung — doch der Mehrheit der Bevölkerung gehen die Massnahmen sogar zu wenig weit.

22.11.2021 - 00:00

Es ist das vierte Mal, dass in ganz Österreich ein Lockdown die Ausbreitung des Coronavirus stoppen soll. Die nächsten drei Wochen sollen helfen, die neuste Infektionswelle zu brechen: Am Sonntag wurden rund 14'000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden registriert. Die Sieben-Tage-Inzidenz kletterte nach behördlichen Angaben auf 1'085 pro 100'000 Einwohner. Auf den Intensivstationen steigt die Belegung weiter. Momentan werden dort 528 Patienten betreut. Das ist nicht mehr weit vom Höchstwert der dritten Welle von 611 entfernt. 

Raus darf man für Arbeit, Einkauf und Erholung 

In dem dreiwöchigen Lockdown dürfen die Menschen nur noch aus triftigem Grund ihr Zuhause verlassen: Für die Arbeit, zum Einkaufen oder auch zur Erholung an der frischen Luft. Die meisten Läden sowie Kulturbetriebe schliessen, Restaurants dürfen nur noch Essen zum Mitnehmen verkaufen. Die Schulen bleiben offen: Die Eltern können entscheiden, ob sie ihre Kinder in den Unterricht schicken.

Angesichts der baldigen Ausgangsbeschränkungen nutzten viele Menschen am Samstag noch einmal die Chance zum Einkaufen. Die Innenstädte, die Shopping-Center und auch viele Restaurants waren gut besucht. 

Die Strassen in Wien waren jedoch nicht nur wegen Passanten voll, Demonstrierende aus ganz Österreich strömten in die Hauptstadt, um gegen die Massnahmen zu protestieren: Um die 40'000 Personen haben laut Polizei teilgenommen, die rechtspopulistische Partei FPÖ sprach von 100'000 Teilnehmern. Die Stimmung sei aufgeheizt gewesen, die Polizei wurde teilweise mit Eiern und Flaschen beschmissen.

Die Demonstrierenden gehören wohl zu einer Minderheit. Zwei Drittel der Bevölkerung sind inzwischen vollständig geimpft. Laut einer Umfrage von Unique Research geht sie einem Grossteil der Bevölkerung sogar zu wenig weit: Nur 6 Prozent der Befragten bezeichneten die beschlossenen Massnahmen als ausreichend. 41 Prozent sahen in der Impfpflicht die geeignetste Massnahme in der Pandemiebekämpfung, 33 Prozent nannten den Lockdown.



Innenminister besorgt

Trotzdem äusserte  sich der österreichische Innenminister Karl Nehammer am Sonntag besorgt über die Ausmasse der Ausschreitungen: Er habe den Eindruck, dass sich die Gegner der Corona-Massnahmen weiter radikalisieren könnten. Es gebe Morddrohungen gegen den Kanzler und den Gesundheitsminister.

Der österreichische Innenminister Karl Nehammer nahm am Sonntag Stellung zur Corona-Grossdemonstration. 
Der österreichische Innenminister Karl Nehammer nahm am Sonntag Stellung zur Corona-Grossdemonstration. 
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Bei der Demonstration hätte sich zudem gezeigt, dass «altbekannte Neonazis und Vertreter der neuen rechtsextremen Szene» versuchten, die Stimmung aufzuheizen. Zu den Vorfällen habe die Verharmlosung des Holocausts gehört, indem sich Demonstranten mit Judenstern als «ungeimpft» kenntlich gemacht hätten. Ausserdem sei Kanzler Alexander Schallenberg mit dem KZ-Arzt Josef Mengele verglichen worden. 

Zudem wurden während der Demonstration Kamerateams und Journalisten beschimpft und auch angegriffen. Nach Polizeiangaben wurden insgesamt 400 Anzeigen erstattet, mindestens sechs Menschen seien festgenommen worden.

«Das ist ein Ausmass an Radikalisierung, das in keiner Weise hinnehmbar ist.»

Karl Nehammer

Österreichischer Innenminister

Die Auswirkungen der Radikalisierung hätten sich auch bei einem Brandanschlag auf ein Polizeiauto in Linz konkretisiert.  Die beiden Tatverdächtigen hätten zugegeben, dass sie beim Anschlag die Absicht hatten, die beiden Polizisten zu töten. «Das ist ein Ausmass an Radikalisierung, das in keiner Weise hinnehmbar ist.»

dpa