Enthüllungsbericht «Ohne jede Gnade» – Wie radikal China die Uiguren unterdrückt

tsha

18.11.2019

Ein Internierungslager in der Stadt Artux: Eine Million Menschen sollen in derartigen Einrichtungen eingesperrt sein.
Ein Internierungslager in der Stadt Artux: Eine Million Menschen sollen in derartigen Einrichtungen eingesperrt sein.
Bild: Keystone

Mit geleakten Dokumenten, die das Ausmass der Internierungslager in China bestätigen, schockte die «New York Times» am Wochenende die Weltöffentlichkeit. Nun reagiert Peking.

Schon seit Jahren berichten Medien und Menschenrechtsorganisationen von ungeheuerlichen Vorgängen in China: Bis zu eine Millionen Menschen, vor allem Mitglieder der ethnischen Gruppe der Uiguren, sollen im Nordwesten des Landes in Internierungslager eingesperrt sein.

Jetzt bestätigen erstmals offizielle Dokumente das ganze Ausmass des Lagersystems. Am Wochenende berichtete die «New York Times» von insgesamt 403 Seiten chinesischer Dokumente, die dem Blatt zugespielt worden waren – «von einem Mitglied des politischen Establishments», wie es heisst.

Laut den «NYT»-Dokumenten stammt die Anweisungen, mit harter Hand gegen die Uiguren vorzugehen, direkt von Staatspräsident Xi Jinping. Schon im April 2014 rief Xi demnach zu einem «Kampf gegen Terrorismus, Infiltration und Separatismus» auf, der mit den «Mitteln der Diktatur» und «ohne jede Gnade» geführt werden solle.

Wenige Wochen vor Xis Ansprache hatten militante Uiguren mehr als 30 Menschen bei einem Messerangriff auf einen Bahnhof in der südwestchinesischen Stadt Kunming getötet. Mit eben diesen Terrorangriffen rechtfertigt China sein Vorgehen gegen die Uiguren.

Die Uiguren sind ein mehrheitlich muslimisches Turk-Volk, das in einem Autonomiegebiet lebt, das seit Mitte des 18. Jahrhunderts von China kontrolliert wird. In den letzten Jahren kam es dort immer wieder zu Aufständen gegen die als Besatzung empfundene Herrschaft der Zentralregierung in Peking und zu teils blutigen Terrorangriffen.

Uiguren sollen «bestraft» werden

Um die aufständischen Uiguren unter Kontrolle zu bekommen, errichtete China seit 2016 Hunderte Lager, die offiziell der Ausbildung und patriotischen Erziehung der Uiguren dienen.

Die nun veröffentlichten «Xinjiang Papers» der «New York Times» zeigen, das Peking religiösen Extremismus für den Widerstand der Uiguren verantwortlicht macht – und nicht das Unabhängigkeitsbestreben der sich unterdrückt fühlenden Minderheit. Religiöser Extremismus sei wie eine Sucht, so Staatspräsident Xi. 

«Sobald du daran glaubst, ist es, wie wenn du eine Droge nimmst», sagte Xi laut den «NYT»-Dokumenten in einer Rede. Die Menschen müssten von dieser Sucht «geheilt» werden. In einer anderen Stelle der geleakten Dokumente heisst es explizit, die Uiguren müssten «bestraft» werden – von Berufsausbildung ist hier keine Rede.

Verdächtige Abstinenzler

Dieses im vergangenen Jahr veröffentlichte Satellitenbild soll ein Internierungslager in der Stadt Artux im Südwesten von Xinjiang zeigen.
Dieses im vergangenen Jahr veröffentlichte Satellitenbild soll ein Internierungslager in der Stadt Artux im Südwesten von Xinjiang zeigen.
Bild: Keystone

Als Rechtfertigung für ihre Politik dient der chinesischen Regierung auch die weltpolitische Lage. So habe der Teilabzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan islamistischen Terroristen Aufwind gegeben; ausserdem hätten Terroranschläge im Westen, etwa in Grossbritannien, gezeigt, dass es falsch sei, «Menschenrechte über Sicherheit» zu stellen. 

Laut einem der geleakten Dokumente machen sich Uiguren bereits dann des Terrorismus verdächtig, wenn sie einen langen Bart tragen, Arabisch lernen und weder Alkohol trinken noch Zigaretten rauchen.

Auch Studenten, die aus anderen Teilen Chinas nach Xinjiang zurückkehren, sieht Peking offenbar als grosse Gefahr an. Sollten die jungen Menschen feststellen, dass ihre Angehörigen in Lager gesperrt wurden, könnten diese sich gegen die Zentralregierung wenden.

«Land mit Konzentrationslagern»

Kurz nach Veröffentlichung der Dokumente erklärte der «Weltkongress der Uiguren», eine Exil-Organisation mit Sitz in München, China sei ein «Land mit Konzentrationslagern». Das berichtet die «Washington Post». Und Elizabeth Warren, US-Senatorin und demokratische Bewerberin um die Präsidentschaft, sprach in einem Tweet von einer «schrecklichen Menschenrechtsverletzung».

Die englischsprachige «Global Times», eine der Kommunistischen Partei Chinas nahe stehende Tageszeitung, griff am Sonntagabend die Berichte der «New York Times» auf. Überraschend dabei ist, dass der Artikel die erhobenen Vorwürfe nicht leugnet, sondern vielmehr rechtfertigt. So habe das System der in Xinjiang errichteten «Zentren» dazu beigetragen, islamistischen Terror einzudämmen.

Im Westen hingegen gäbe es Kräfte, die es mit Freude ansehen würden, wenn Xinjiang ins Chaos gestürzt würde. China aber habe der Region «Frieden und Wohlstand» gebracht. Dass die Dokumente überhaupt einem Medium zugespielt wurden, deutet für westliche Beobachter allerdings auf zunehmenden Widerstand gegen die Pekinger Politik in den eigenen Reihen hin.

Ausserdem gibt es in den «Xinjiang Papers» mehrere Berichte über einen Kader namens Wang Yongzhi, der sich offen gegen die Politik der Internierungslager gestellt haben soll. Wang tat dies offenbar aber nicht aus humanitären Gründen – vielmehr befürchtete der Politiker, der Bezirk, für den er zuständig war, könne wirtschaftlich zurückfallen. Seine Logik: Wenn zu viele Menschen in Haft sind, fehle es schlicht und einfach an Arbeitskräften.

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