StimmwahlOrganspende-Regeln öffnen einen Graben entlang der Sprachgrenze
su, sda
15.5.2022 - 04:31
In der Schweiz wird neu jeder und jede grundsätzlich Organspender oder Organspenderin, ausser er oder sie hat eine Spende zu Lebzeiten ausdrücklich abgelehnt. Im Landesdurchschnitt stimmten gegen zwei Drittel der Stimmenden für den Paradigmenwechsel.
Keystone-SDA, su, sda
15.05.2022, 04:31
15.05.2022, 16:41
SDA
Rund 1'319'300 Stimmende legten ein Ja zum geänderten Transplantationsgesetz ein und rund 872'100 ein Nein. Das entspricht einem Ja-Stimmen-Anteil von 60,2 Prozent. Nach dem eher flauen Abstimmungskampf war die Stimmbeteiligung unterdurchschnittlich: 39,7 Prozent der Stimmberechtigten gingen an die Urnen.
Doch besonders in deutschsprachigen Gebieten hatte die Vorlage Mehrheiten unter dem Durchschnitt. In den Westschweizer Kantonen lagen die Zustimmungsraten bei je über 70 Prozent. Im Kanton Waadt stimmten rund 81 Prozent dem geänderten Transplantationsgesetz zu.
20 bis 30 Prozentpunkte Unterschied
Die Differenzen in den befürwortenden Kantonen betrugen Ja-Anteile zwischen 20 und 30 Prozentpunkte – die Waadt sagte mit 81 Prozent Ja. Schaffhausen, Schwyz und beide Appenzell lehnten die Vorlage ab. Knapp über 50 Prozent Ja lag der Kanton Thurgau. Unter 53 Prozent Ja lagen Aargau, Obwalden, Glarus, Solothurn und Uri.
Die Schweiz wechselt nun bei der Organspende von einer Zustimmungsregelung zu einer Widerspruchsregelung. Neu ist jeder und jede grundsätzlich Organspender oder -spenderin, wenn er oder sie zu Lebzeiten nicht aktiv widersprochen hat. Die Schweiz nimmt damit den von mehreren europäischen Ländern gewählten Weg.
Einbezug der Angehörigen
«Erweitert» wird die Schweizer Form der Widerspruchslösung genannt, weil enge Angehörige befragt werden können zum mutmasslichen Willen des oder der Verstorbenen. Dies ist dann der Fall, wenn die verstorbene Person ihren Willen nicht schriftlich kundgetan hat.
Die Änderungen im Transplantationsgesetz sind ein indirekter Gegenvorschlag zur radikaler formulierten Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten». Die Initiative regelte im Gegensatz zur Gesetzesänderung den Einbezug der Angehörigen nicht. Da der Gegenvorschlag nun in Kraft tritt, wird sie zurückgezogen.
Die Umstellung auf die neuen Regelungen erfolgt frühestens 2023. Denn zunächst muss das neue Register vorbereitet werden, in das der Spenderwille oder aber die Ablehnung einer Spende eingetragen werden kann. Zudem schreibt das Gesetz vor, die Bevölkerung regelmässig und umfassend über die neue Regelung zu informieren.
Antwort auf Organmangel
An der Urne haben sich jene Kräfte durchgesetzt, die den Wechsel von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung als Antwort sehen auf den Organmangel in der Schweiz. Zwar wären laut Umfragen viele Menschen bereit, ein Organ zu spenden. Viele schreiben ihren Willen aber nicht nieder.
Befragte Angehörige, die nicht Bescheid wissen, lehnen die Organspende deshalb häufig ab. Die «erweiterte Widerspruchslösung» erhöht laut den Befürwortern die Chancen für Kranke, rascher ein gesundes Organ zu erhalten, weil grundsätzlich von einer Zustimmung der Verstorbenen zur Organentnahme ausgegangen werden kann.
Umstrittene körperliche Unversehrtheit
Gegen den Systemwechsel war ein unabhängiges und überparteiliches Referendumskomitee unter dem Titel «Nein zur Organspende ohne explizite Zustimmung» angetreten. Es argumentierte, dass wissenschaftlich nicht belegt sei, dass die Widerspruchslösung tatsächlich zu mehr Organspenden führe.
Es sei zudem ethisch fragwürdig, mündige Menschen zu Organspendern zu machen, die zu Lebzeiten nicht widersprochen hätten. Wer eine Organentnahme nicht explizit ablehne, über dessen Körper verfügten nach dem Tod andere, von Rechts wegen. Dabei garantiere die Verfassung das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung.
Dem Komitee erscheint es zudem nicht machbar, dass alle Menschen in der Schweiz ausreichend über die Regelung zur Organentnahme informiert sind – etwa weil sie die Sprache nicht sprechen oder sich nicht mit ihrem eigenen Tod befassen wollen. Eine solche Informationspflicht sieht das Gesetz neu vor.
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