Erkrankter Kreml-Kritiker «Putin wird alles daran setzen, dass Nawalny körperlich überlebt»

Von Andreas Fischer

10.4.2021

Kremlkritiker Alexej Nawalny während des Prozesses in Moskau. 
Kremlkritiker Alexej Nawalny während des Prozesses in Moskau. 
Bild: Keystone

Der Gesundheitszustand von Alexej Nawalny verschlechtert sich in der Haft rapide. Doch Russlands Präsident Wladimir Putin kann es sich politisch nicht leisten, dass der Kreml-Kritiker zum Märtyrer wird, wie ein Experte erklärt.

Von Andreas Fischer

10.4.2021

«Er ist nicht da, weil er ein Verbrechen begangen hat, sondern weil er Putin nicht gefällt»: Dmitri Nisowzew ist Mitarbeiter von Alexej Nawalny und weiss genau, warum sein Chef in der «Gefängnis-Hölle für Putins grössten Feind» gelandet ist. Nawalny gilt – zumindest im Westen – als eine der grössten innenpolitischen Bedrohungen für den russischen Präsidenten. Das bestätigt Professor Ulrich Schmid von der Uni St. Gallen im Gespräch mit «blue News».



«Im Westen gilt Nawalny als Vorkämpfer für die Freiheit», sagt der Russland-Experte, weist aber zugleich auf eine Wahrnehmungsdiskrepanz hin: «In Russland überwiegt gegenüber Alexej Nawalny eigentlich Gleichgültigkeit, auch wenn Nawalny eine eingeschworene Anhängerschaft hat.» So seien die Proteste nach Nawalnys Verurteilung vor einigen Wochen weniger pro Nawalny orientiert gewesen, sondern hätten sich eher «gegen das autoritäre System, gegen die fehlende Rechtsstaatlichkeit» gerichtet.

Nawalny hat gegen den Kreml keine Chance

Für Putin ist Nawalny eigentlich wenig gefährlich, sagt Schmid. «Bei einer Umfrage im September 2020 gaben 3 Prozent der Befragten an, Nawalny zu vertrauen. Putin erreichte in derselben Umfrage einen Wert von 33 Prozent. Wenn es, was natürlich komplett utopisch ist, 2024 zu freien Präsidentschaftswahlen in Russland käme, hätte Nawalny gegen einen Kandidaten des Kreml, mag es nun Putin sein oder jemand anderes, keine Chance.»

Darauf ankommen lassen wird es Moskau wohl nicht: «Es wird wohl nicht bei dieser einen Haftstrafe bleiben, die im Herbst 2023 endet», schätzt Schmid ein. Das wäre nämlich genau die Zeit, wenn der Präsidentschaftswahlkampf 2024 läuft. «Der Kreml wird wahrscheinlich alles daran setzen, dass Nawalny dann nicht in Freiheit sein wird. Ich gehe davon aus, dass es eine weitere Verurteilung geben wird, noch während Nawalny in Haft ist.»



Dass der Kreml mit besonderer Härte gegen Nawalny vorgeht, obwohl er eigentlich gar nicht gefährlich werden kann, läge «vor allem daran, dass er ungeschriebene Regeln verletzt hat», erklärt Schmid. «Im russischen Mediensystem gilt der ungeschriebene Grundsatz, dass man Wladimir Putin nicht persönlich angreifen kann. Mit dem Film über den Luxuspalast hat Nawalny eine rote Linie überschritten.»

Behandlung «genau nach Vorschrift»

Wer Putin persönlich angreift, muss mit einer unbarmherzigen Reaktion rechnen. Dass es Nawalny im Straflager in Pokrow rund 100 Kilometer östlich von Moskau zunehmend schlechter geht, nimmt der Kreml scheinbar regungslos hin. Schmid zufolge gibt es dafür eine Erklärung: «Dem Kreml geht es um die Glaubwürdigkeit des Systems: Man versucht, zu zeigen, dass die russischen Gefängnisse für alle Häftlinge gleich sind und dass es keine Sonderbehandlung gibt. Deshalb lehnt man auch eine Behandlung von Alexej Nawalny durch seine Vertrauensärzte ab.» Nawalny werde in der Strafkolonie «genau nach Vorschrift» behandelt, schätzt Schmid ein.

Nach Angaben von Nawalnys Anwältin Olga Michajlowa ist der Gesundheitszustand des Kreml-Kritikers derzeit besorgniserregend. In einem Interview mit dem «Spiegel» schlägt die Juristin Alarm. Nawalny sehe «schlecht aus», er habe «Schmerzen im Rücken, die in die Beine ausstrahlen und Taubheit hervorrufen». Dazu kämen Husten und Fieber.



Um gegen die Zustände in der Strafkolonie zu protestieren, ist Nawalny seit Ende März im Hungerstreik, 14 Kilogramm habe er bereits abgenommen, berichtet Michajlowa. Die Behörden würden seine Behandlung verschleppen und in Kauf nehmen, dass sich Nawalnys Zustand weiter verschlechtert: «Würde ein qualifizierter Arzt kommen, würde er sehen, wie miserabel Alexej behandelt wurde.»

Nawalny soll nicht zum Märtyrer werden

Es scheint, als würde der Kreml in Kauf nehmen, dass sich der Gesundheitszustand seines hartnäckigen Kritikers lebensbedrohlich verschlechtert. Schmid sieht das nicht so: «Wenn Häftlinge in den Hungerstreik treten, besteht eine besondere Sorgfaltspflicht für Gefängnisse, das gilt in Russland wie in anderen Ländern. Ab einem gewissen Zeitpunkt kann ich mir vorstellen, dass die Gefängnisdirektion zur Zwangsernährung übergeht.»

Schliesslich wäre es «der grösstmögliche Unfall für den Kreml, wenn Nawalny in der Gefangenschaft sterben oder bleibende Schäden davontragen würde. Deswegen wird Putin alles daran setzten, dass Nawalny körperlich überleben wird», sagt Schmid. Putin kann es sich politisch nicht leisten, dass Nawalny im Straflager zum Märtyrer wird. «Aussenpolitisch wären die Folgen sicherlich gravierend: Es würde Protestnoten hageln, russische Botschafter würden einbestellt werden. Das wäre ein grösserer Reputationsschaden für Russland.»

Innenpolitisch hingegen wären die Folgen überschaubar. Die Organisation von Nawalnys Fonds zur Korruptionsbekämpfung würde gestärkt werden, aber in der breiten Bevölkerung würde es wahrscheinlich nur ein Schulterzucken geben. Schmid kann sich ausmalen, wie die Mehrheit reagiert: «Wir wissen, dass unser Staat grausam mit seinen Gegnern umgeht, und hier haben wir ein weiteres Beispiel dafür.» Es sei eher unwahrscheinlich, «dass es zu einem Massenprotest auf den Strassen kommen würde. Mittlerweile braucht es schon sehr viel Mut, um in Russland auf die Strasse zu gehen».

Figur in einem Machtspiel mit offenem Ausgang

Noch im Dezember 2020 habe die russische Regierung darauf gesetzt, dass Nawalny, der zuvor nach einem Giftanschlag mehrere Monate in Deutschland behandelt wurde, nicht zurückkommt. «Der Kreml hoffte, aus Nawalny einen zweiten Chodorkowski zu machen, einen Regierungskritiker, der sich selbst diskreditiert, weil er im Ausland sitzt und genau deswegen in Russland keinen politischen Einfluss hat.»

Diesen Gefallen aber wollte Alexej Nawalny dem Kreml nicht tun: «Er hat sich selbst zu einer Figur in einem grossen Machtspiel gemacht, dessen Ausgang überhaupt nicht abzusehen ist», schätzt Schmid ein. «Nawalny baut sein politisches Kapital auf seinem Opferstatus in einem Unrechtssystem auf.»

Mit Material von SDA und dpa.