GrossbritannienRefugees Not Welcome – wie das Brexit-Land sich abschotten will
Von Larissa Schwedes, dpa
3.7.2021 - 14:00
Grossbritannien gehört nicht zu jenen Staaten, die von vielen Geflüchteten angesteuert werden. Trotzdem sorgen ankommende Migranten-Boote für Aufregung. Das hat auch mit einem Versprechen des Brexits zu tun.
Von Larissa Schwedes, dpa
03.07.2021, 14:00
dpa/phi
Menschen, die sich auf dem Meer in überfüllte Schlauchboote quetschen und hoffen, dass das fragile Gefährt sie lebend ans Ufer bringt: Immer und immer wieder spielen sich solche Szenen auf dem Mittelmeer ab. Aber auch im Ärmelkanal, der Grossbritannien und Frankreich trennt, gehören sie schon fast zum Alltag.
Mehr als 4000 Menschen machten sich offiziellen Zahlen zufolge in diesem Jahr bereits bis Anfang Juni von der französischen Küste aus auf den Weg über den Kanal, im vergangenen Jahr waren es mehr als 8000.
Für eine so gefährliche Route, auf der auch immer wieder Menschen wegen der starken Strömung oder Bootsunfällen ums Leben kommen, ist das zwar viel – für ein Land mit rund 66 Millionen Einwohnern aber noch immer eine überschaubare Zahl. Doch die Bilder der vollen Flüchtlingsboote sind für die Regierung in London ein Problem.
«Viel weniger Thema»
Das liegt – wie so oft – auch am Brexit. «Take Back Control of our Borders», also Kontrolle über die eigenen Grenzen zurückzugewinnen, war eines der Versprechen, mit dem die «Vote Leave»-Kampagne ihre Anhänger vom EU-Austritt überzeugte. «Heute ist Immigration viel weniger ein Thema in der britischen Bevölkerung als noch vor fünf Jahren», meint Jonathan Portes, Einwanderungsexperte der Denkfabrik «UK in a Changing Europe».
Trotzdem hat sich allen voran Innenministerin Priti Patel in den Kopf gesetzt, das Versprechen mit harter Hand durchzusetzen. Menschen, die unangekündigt an den Küsten in Dover aufschlagen, gelten in Kreisen der konservativen Tory-Partei als Zeichen des politischen Kontrollverlusts. Vereinzelte Proteste von Nationalisten in der Grenzregion gelten als Bestätigung.
«Wir haben eine Innenministerin, die den Ruf hat, eine ideologische, rechtskonservative Pro-Brexit-Hardlinerin zu sein. Sie hat ihre Karriere darauf aufgebaut», erklärt Portes. Erst kürzlich liess sich die 49-Jährige, die selbst aus einer indisch-ugandischen Familie stammt, bei der Festnahme von Schleusern höchstpersönlich neben der Polizei ablichten.
«Wir schliessen keine Option aus»
Halb-öffentlich denkt sich gern darüber nach, Schlauchboote mit Kriegsschiffen aufzuhalten oder Asylsuchende in afrikanische Zentren auszulagern. «Wir schliessen keine Option aus, die illegale Migration reduzieren könnte und den Druck auf unser kaputtes Asyl-System verringert», heisst es dazu auf Anfrage aus dem Innenministerium.
Ein Urteil bescheinigte Patel höchstrichterlich, dass Unterkünfte, die für Hunderte Asylsuchende genutzt wurden, nicht einmal Minimalstandards in Sachen Corona-Schutz entsprechen. Grossbritanniens Austritt aus der EU bedeutet nicht nur, dass für EU-Bürger die Zeiten des freien Wohnens und Arbeitens im Land vorbei sind. Laut aktuellen Plänen soll für Asylsuchende künftig ein Zwei-Klassen-System gelten.
So sollen Flüchtlinge, die auf illegalem Wege wie über den Ärmelkanal ins Land gekommen sind, langfristig Nachteile und Einschränkungen gegenüber jenen haben, die auf legalem Wege ankommen. Die Möglichkeiten für die legale Einwanderung sind jedoch kompliziert und begrenzt, für Menschen in Not oft keine echte Alternative.
«Diskriminierendes Zwei-Klassen-System»
Das Vorhaben rief sogar die Vereinten Nationen auf den Plan, deren Flüchtlingshilfswerk UNHCR den Plan deutlich kritisierte. Grossbritannien habe die Flüchtlingsschutzkonvention im Jahr 1951 massgeblich mit vereinbart, heisst es in einer Stellungnahme.
Sollten die Briten das «diskriminierende Zwei-Klassen-System» wie geplant umsetzen, würde das gegen das Abkommen verstossen. «Wenn Staaten wie das Vereinigte Königreich, die einen vergleichsweise kleinen Teil der weltweiten Asylsuchenden aufnehmen, bereit zu sein scheinen, ihre Verpflichtungen nicht zu erfüllen, wird das System weltweit geschwächt», so die Kritik.
Laut UNHCR waren im vergangenen Jahr weltweit mit 82,4 Millionen so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. Grossbritannien ist als Insel kein typischer Ankunftsort für sie. Viele Länder auf dem Kontinent sind, gerade aus dem Nahen Osten oder Afrika, deutlich leichter erreichbar.
So wenig Asylanträge wie seit 2012 nicht mehr
Im vergangenen Jahr gingen die Zahlen in Grossbritannien sogar noch einmal zurück und sanken mit rund 8600 bewilligten Asylanträgen bis Ende März um rund ein Viertel gegenüber dem Vorjahr und insgesamt auf den niedrigsten Stand seit 2012.
Dass die Überfahrten am Ärmelkanal trotzdem eher zunehmen, hat damit zu tun, dass die Situation rund um die nahe gelegene nordfranzösische Hafenstadt Calais weiter angespannt ist. Immer wieder bilden sich Lager, in denen die Migranten unter schlimmen Umständen hausen. Die Polizei löst diese Behelfsunterkünfte regelmässig auf, ab und zu kommt es zu Zusammenstössen mit Sicherheitskräften oder unter den Migranten.
Politikerinnen und Politiker aus der Region warnen vor einem neuen «Dschungel» und beklagen fehlende Unterstützung aus Paris, aber auch London. 2016 war der sogenannte Dschungel von Calais aufgelöst worden, in dem Tausende unter unwürdigen Bedingungen ausharrten. Vereine vor Ort beklagen, dass es noch immer keine dauerhafte Lösung für die Menschen gibt.
«Der Strom ist nur sichtbarer»
Um dieser Situation zu entkommen, versuchen einige Flüchtende, an Bord von Lastwagen zu kommen, die per Fähre oder durch den Eisenbahntunnel nach England unterwegs sind. Andere wählen die lebensgefährliche Überfahrt mit kleinen Booten über den rund 50 Kilometer breiten Kanal, auch Schlepper bieten ihre Dienste an.
Experte Portes hält die Zunahme der Überfahrten auch für einen Nebeneffekt der Pandemie. Viele Flugzeuge oder Züge, über die Flüchtende in anderen Zeiten nach Grossbritannien kamen, standen monatelang still. «Es ist also kein Anstieg des Flüchtlingsstroms, sondern sogar das Gegenteil», erklärt der Migrationsforscher. «Der Strom ist nur sichtbarer und die Bedingungen gefährlicher geworden.»
Innenministerin Patel will sich damit nicht abfinden. In Verhandlungen mit Kollegen in Europa versucht sie EU-Staaten zu überreden, Flüchtlinge zurückzunehmen – bislang jedoch ohne Erfolg. «Das war ziemlich vorhersehbar», meint Portes. Die Regierung sei mit dem Brexit wissentlich aus dem Dublin-Abkommen ausgestiegen, das ähnliche Regeln vorsieht.
Für EU-Länder, die oft viel höhere Flüchtlingszahlen bewältigen müssten, gebe es daher überhaupt keine Anreize, Grossbritannien diesen Gefallen zu tun.
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