Politisches Beben in FrankreichLinke überraschend vorn, Rechtsnationale erreichen nur dritten Platz – Premier tritt zurück
dpa/toko
8.7.2024 - 05:20
Parlamentswahl in Frankreich: Linke überraschend vorne
Bei der Parlamentswahl liegt ersten Hochrechnungen zufolge das Linksbündnis überraschend vorn
07.07.2024
Damit hatte kaum einer gerechnet: Unerwartet werden die Linken wohl stärkste Kraft. Marine Le Pens Rechtsnationale hingegen könnten nur auf Platz drei landen. Wie könnte es jetzt weitergehen?
dpa/toko
08.07.2024, 05:20
08.07.2024, 15:28
SDA
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In der zweiten Runde der Parlamentswahl in Frankreich hat das Linksbündnis laut Prognosen die meisten Sitze gewonnen.
Die rechtspopulistische Partei RN von Marine Le Pen kam hinter der zentristischen Allianz von Präsident Emmanuel Macron auf den dritten Platz.
Ohne klare Mehrheitsverhältnisse könnten Frankreich politische Turbulenzen bevorstehen.
Das Ergebnis ist eine Überraschung: Nach der ersten Wahlrunde vor einer Woche sahen Prognosen das RN noch knapp unter der absoluten Mehrheit.
Der französische Premierminister Gabriel Attal hat seinen Rücktritt angekündigt.
Am Tag nach dem unerwarteten Ergebnis bei der Parlamentswahl muss Frankreich sich neu sortieren. Der Rechtsruck fällt schwächer aus als angenommen – in der neu gewählten Nationalversammlung wird voraussichtlich ein Linksbündnis stärkste Kraft. Premierminister Gabriel Attal zog erste Konsequenzen und kündigte seinen Rücktritt an.
Eine regierungsfähige Mehrheit ist aber noch nicht in Sicht, zudem fehlt es den Linken an einer gemeinsamen Führung. Ungewiss ist auch, was das Ergebnis für Deutschland und Europa heisst.
Die Linksbündnis Nouveau Front Populaire aus Linken, Kommunisten, Sozialisten und Grünen könnte nach Angaben der Institute Ipsos und Ifop auf 177 bis 192 der 577 Sitze kommen – und sorgte damit für eine grosse Überraschung.
Das Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron und Attal hingegen sackt demnach von zuvor 250 auf nun 152 bis 169 Mandate ab.
Das Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen und seine Verbündeten wachsen von zuletzt 88 auf 138 bis 145 Sitze – und dürfte somit nur auf dem dritten Platz landen. Die absolute Mehrheit von 289 Sitzen dürfte aber keine der Gruppierungen erreichen.
Die in der Schweiz wohnhaften Französ*innen wählten erneut den bisherigen Abgeordneten Marc Ferracci. Der Freund und Trauzeuge von Präsident Macron erhielt 34'771 Stimmen, wie vorläufige Zahlen des französischen Innenministeriums zeigten. Die Kandidatin der Linken und Mitglied der Stadtgenfer SP, Halima Delimi, erhielt demnach 23'687 Stimmen.
Überraschungserfolg mit Zweckbündnis
Das Ergebnis kommt in Frankreich vollkommen überraschend. Nach der ersten Wahlrunde vor einer Woche sahen Prognosen das RN noch knapp unter der absoluten Mehrheit und damit möglicherweise in der Lage, die nächste Regierung zu stellen. Deutlich zugelegt hat das RN dennoch: Im aufgelösten Parlament hatte es noch 88 Sitze.
Linke und Macrons Mitte-Kräfte hatten vor der zweiten Wahlrunde eine Zweckallianz gebildet. Um sich in Wahlkreisen, in denen drei Kandidaten in die zweite Runde kamen, nicht gegenseitig Stimmen wegzunehmen und dem RN so lokal zum Sieg zu verhelfen, zogen sich etliche Kandidaten der Linken und der Liberalen zurück. Ihre Wählerschaft riefen sie dazu auf, in jedem Fall gegen das RN zu stimmen.
Frankreichs gespaltene Linke hatte sich erst vor wenigen Wochen für die Parlamentswahl zum Nouveau Front Populaire zusammengeschlossen. Bei der Europawahl waren die Parteien noch einzeln angetreten. Streit gibt es innerhalb der Linken vor allem über die altlinke Führungsikone Jean-Luc Mélenchon. Der Populist, der mit euroskeptischen Aussagen auffällt und einen klar propalästinensischen Kurs fährt, wird selbst innerhalb seiner Partei heftig kritisiert.
Eine klare Führung hat das Bündnis aus Linken, Kommunisten, Sozialisten und Grünen nicht. Auch ein gemeinsames Programm gibt es nicht.
Premierminister Attal kündigt Rücktritt an
Der französische Premierminister Gabriel Attal hat indessen seinen Rücktritt angekündigt.
Das Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron verfüge über keine Mehrheit mehr, teilte er nach Bekanntwerden erster Hochrechnungen mit. Er werde seinen Rücktritt am Montagmorgen bei Macron einreichen.
Macron kann Attal und die Regierung bitten, für die laufenden Geschäfte zunächst kommissarisch im Amt zu bleiben, bis die Mehrheit für eine neue Regierung steht. Auch mit Blick auf die Olympischen Spiele, die am 26. Juli in Paris beginnen, kann es sein, dass die Regierung von Attal noch einige Wochen im Amt bleibt.
Linken-Parteigründer sieht Regierungsauftrag
Der Gründer der französischen Linkspartei sieht nach dem überraschenden Wahlerfolg des Linksbündnisses bei der Parlamentswahl einen klaren Regierungsauftrag. «Der Präsident hat die Pflicht, den Nouveau Front Populaire zum Regieren aufzufordern», sagte Jean-Luc Mélenchon. Macron solle seine Niederlage eingestehen. Mélenchon schloss Verhandlungen über einen Zusammenschluss mit Macrons Lager aus.
Schwere Ausschreitungen nach Demos
In Paris und anderen Städten kam es später am Abend zu schweren Ausschreitungen und Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei.
In der Hauptstadt versammelten sich Tausende Menschen auf dem Place de la République, um den Sieg des Linksbündnisses zu feiern. Dabei geriet ein Teil der Demonstranten nach Medienberichten mit den Ordnungskräften aneinander, die Tränengas einsetzen. Barrikaden aus Holz wurden in Brand gesetzt.
Auschwitz Komitee: «Ungeheure Erleichterung»
Indessen atmet das Internationale Auschwitz Komitee auf. «Diese Wahlprognose ist für viele Menschen in Frankreich und vielen anderen Ländern eine ungeheure Erleichterung und ein ermutigendes Signal für Europa: Die Brandmauer der Demokratie gegenüber der extremen Rechten steht», erklärte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner in Berlin.
«Die Werte der Republik und ihre Erinnerungen und Erfahrungen aus den dunkelsten Zeiten von Hass, Ausgrenzung und Krieg sind mobilisierbar und in den Herzen und Köpfen der Menschen gegenwärtig», so Heubner.
Le Pen nach Frankreichwahl: Unser Sieg ist nur aufgeschoben
Trotz des Erfolgs des Linksbündnisses gibt sich Marine Le Pen vom rechtsnationalen Rassemblement National (RN) gelassen. «Die Flut steigt weiter und unser Sieg ist heute nur aufgeschoben», sagte sie nach den ersten Hochrechnungen. Sie sei mit ihrer Partei auf dem Vormarsch gegen eine Koalition aller Bewegungen.
Nach der ersten Wahlrunde vor einer Woche sahen Prognosen das RN noch knapp unter der absoluten Mehrheit und damit möglicherweise in der Lage, die nächste Regierung zu stellen. Nun könnten sie nur drittstärkste Kraft hinter dem Linksbündnis und dem Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron werden. Deutlich zugelegt hat das RN im Vergleich zur vorherigen Nationalversammlung dennoch.
Kommt Minderheitsregierung oder Grosse Koalition?
Wie es nach der Wahl weitergeht, ist vorerst unklar. Mit dem Ergebnis ergeben sich verschiedene Zukunftsszenarien. Die Linken könnten versuchen, von den Mitte-Kräften Unterstützung zu bekommen – entweder als eine Minderheitsregierung mit Duldung oder in einer Art Grossen Koalition. Angesichts der gegensätzlichen politischen Ausrichtungen ist allerdings nicht abzusehen, ob dies gelingen könnte. Auch hatte etwa Premier Gabriel Attal eine Regierungszusammenarbeit mit der Linkspartei La France Insoumise explizit ausgeschlossen.
Unklar ist, ob Staatschef Emmanuel Macron in einem solchen Szenario politisch gezwungen wäre, einen Premier aus den Reihen der Linken zu ernennen. Die Nationalversammlung kann die Regierung stürzen.
Bei einem Premier aus dem linken Lager müsste Macron Macht teilen. Der Premier würde wichtiger. Was dies für Europa hiesse, ist unklar. Das Linksbündnis vertritt bei vielen grossen politischen Themen sehr unterschiedliche Positionen.
Klar scheint aber, dass Macron selbst in einer Koalition mit den Linken nicht ungehindert seinen Kurs fortfahren könnte, sondern gezwungen wäre, etliche Kompromisse einzugehen.
Ohne Mehrheit droht Stillstand
Sollte keines der Lager eine Regierungsmehrheit finden, könnte die aktuelle Regierung als Übergangsregierung im Amt bleiben oder eine Expertenregierung eingesetzt werden. Frankreich droht in einem solchen Szenario politischer Stillstand. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch Macron und Neuwahlen sind erst im Juli 2025 wieder möglich.
Für Europa hiesse das, dass Paris als wichtiger Akteur in Europa und als Teil des deutsch-französischen Tandems nicht mehr tatkräftig zur Verfügung stehen würde. Statt neuer Initiativen stünde in Frankreich Verwaltung an der Tagesordnung. Das Amt von Staatschef Macron bleibt von der Wahl zwar unangetastet, doch ohne handlungsfähige Regierung könnte auch er seine Projekte nicht durchsetzen.
Brüssel und vor allem Berlin dürften von dem Wahlausgang erleichtert sein. Zwar können die Rechtsnationalen ihre Fraktion in der Nationalversammlung ausbauen. Eine Regierung scheint für sie aber quasi unmöglich. Diese wäre wohl das Schreckszenario für Deutschland und die Europäische Union gewesen. Das RN hält im Gegensatz zu Macron wenig auf die seit Jahrzehnten enge Zusammenarbeit mit Berlin. Die europaskeptischen Nationalisten streben zudem danach, den Einfluss der Europäischen Union in Frankreich einzudämmen.
Mit einer RN-Regierung wäre Frankreich politisch massiv nach rechts gerückt. Erstmals seit dem mit den Nationalsozialisten kollaborierenden Vichy-Regime wären wieder Rechtsaussen-Kräfte an die Macht gekommen.
Zweifel am Wandel von Le Pens Partei
Den Rechtsnationalen wurde das Zweckbündnis der linken und liberalen Kräfte für die zweite Wahlrunde zum grossen Nachteil. Auch dürfte die Angst vor einer rechtsnationalen Regierung viele Menschen an die Wahlurne getrieben haben.
Etliche Kandidatinnen und Kandidaten des RN waren zudem wegen angeblicher rechtsextremer oder antisemitischer Aussagen in der Vergangenheit ins Gerede gekommen. Somit ergaben sich in der Öffentlichkeit Zweifel an der von Marine Le Pen betriebenen «Entteufelung» der Partei. Mit diesem Kurs versucht Le Pen seit Jahren, ihre Partei gemässigter erscheinen zu lassen und bis in die bürgerliche Mitte hinein wählbar zu machen.
Linkes Lager profitiert von Einigkeit und Angst vor rechts
Die Linken profitierten von ihrem im Eiltempo gebildeten Bündnis. Auch dass sie die Führungsfrage offenliessen, dürfte ihnen geholfen haben, diejenigen Wähler hinter sich zu vereinen, die ein Problem mit dem Linkspopulisten Mélenchon haben.
Ausserdem dürften die Linken wegen der Verunsicherung und Angst vor einem historischen Rechtsruck in Frankreich und einer rechtsnationalen Regierung deutlich mehr Zuspruch bekommen haben.
Macron steht besser da als gedacht
Für den unpopulären Macron ist das Ergebnis überraschend weniger vernichtend als erwartet. Macron scheiterte zwar mit dem Versuch, die relative Mehrheit seiner Mitte-Kräfte mit den Neuwahlen auszubauen. Immerhin könnte seine Fraktion aber noch vor Le Pens Rechtsnationalen zweite Kraft werden und mit den Linken in Regierungsverantwortung sein.
Noch in der ersten Wahlrunde war Macron und seinen Anhängern die Einigkeit des linken Lagers zum Verhängnis geworden. Die Auflösung der Nationalversammlung wurde von vielen als unverantwortlich gewertet. Auch dies lasteten Französinnen und Franzosen Macron an.