Druck, Schikane, Zensur Russen gehen im Schatten von Putins Krieg wählen

dpa / tchs

7.9.2022

In über 80 russischen Regionen werden Regionalparlamente und Gouverneure gewählt. Doch frei ist die Wahl nicht. (Archivbild)
In über 80 russischen Regionen werden Regionalparlamente und Gouverneure gewählt. Doch frei ist die Wahl nicht. (Archivbild)
Getty Images

Unter dem Eindruck des Kriegs gegen die Ukraine sind Millionen Russen zur Wahl neuer Regionalparlamente und Gouverneure aufgerufen. Der Urnengang soll als Zeichen der Einheit zwischen Staat und Volk dienen.

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Echte Kriegsgegner sind rar bei Russlands Regionalwahlen. Erstmals wird in dem Riesenreich eine Abstimmung unter dem Eindruck des Krieges gegen die Ukraine organisiert. Die Unterstützer von Kremlchef Wladimir Putins blutiger Invasion in der Ukraine erwarten zwar an diesem Sonntag (11. September) einen souveränen Sieg auf breiter Front. Doch schon vorab beklagen unabhängige Wahlbeobachter und die letzten kargen Reste der Opposition, dass ein Urnengang noch nie so unfrei war wie diesmal.

«Es ist unmöglich, von einer freien politischen Willensbekundung zu sprechen», teilt die angesehene Organisation Golos mit, die ungeachtet von Schikane und Druck der Behörden auch diesmal wieder Wahlbeobachter einsetzen will. Tausende Kandidaten stellen sich in 82 Regionen Russlands zur Wahl; rund 45 Millionen Menschen können abstimmen - auch in der Grenzregion Kursk, die häufig über Beschuss aus der Ukraine klagt.

Anberaumt sind rund 4700 Wahlen unterschiedlicher Ebenen. Bestimmt werden vereinzelt neue Gouverneure - etwa in Kaliningrad um das frühere Königsberg - und Regionalparlamente. Gewählt werden aber auch Delegierte für Stadtteilvertretungen, zum Beispiel in Moskau.

«Angriff auf Überbleibsel freier Meinungsäusserung»

Ein echter Stimmungstest über Putins Kriegskurs ist es nicht. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte am Dienstag, die «militärische Spezialoperation» habe nicht zu einer Spaltung, sondern zu einer Konsolidierung der Gesellschaft geführt. Entsprechend dürfte die russische Führung ein Interesse daran haben, ein starkes Wahlergebnis vorzuweisen.

Hauptproblem dabei sei, so Golos, dass der Machtapparat zuletzt einen «massiven Angriff auf die letzten Überbleibsel freier Meinungsäusserung» vollzogen habe. Die Bevölkerung habe wegen Tausender gesperrter Internetseiten unabhängiger Medien, aber auch wegen Zensur in den vom Machtapparat zugelassenen Quellen kaum noch eine Möglichkeit, sich ausgewogen zu informieren. Soziale Netzwerke wie Instagram, Facebook und Twitter sind blockiert.

Kremlchef Wladimir Putin besucht öffentliche Veranstaltungen ohne Maske, doch der Opposition sind keine Kundgebungen erlaubt.
Kremlchef Wladimir Putin besucht öffentliche Veranstaltungen ohne Maske, doch der Opposition sind keine Kundgebungen erlaubt.
Bild: KEYSTONE

Seit Beginn des Krieges vor gut sechs Monaten sind die Gesetze gegen Andersdenkende deutlich verschärft worden. Von Wahlkampf ist wenig zu spüren - mit Ausnahme von ein paar nüchternen Plakaten. Obwohl die meisten Corona-bedingten Einschränkungen aufgehoben sind und auch Präsident Putin maskenfreie Massenveranstaltungen besucht, sind Kundgebungen der Opposition nicht erlaubt.

«Die Unzufriedenheit der Menschen ist gross», sagt der Politologe Abbas Galljamow. Viele haben keine Arbeit mehr, weil Aufträge fehlen, Geschäftsbeziehungen wegen der Sanktionen zerstört sind. Galljamow rät zur Protestwahl nach dem Modell der «smarten Abstimmung», wie sie der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny im vorigen Jahr aus dem Straflager heraus initiiert und damit einzelne Erfolge erzielt hatte. Die Idee dahinter ist, einen anderen Kandidaten als den der Kremlpartei Geeintes Russland zu wählen.

Alle Duma-Parteien unterstützen den Krieg

Allerdings weiss auch Galljamow, dass die Zustimmung zu Putins Krieg über die Parteigrenzen hinweg gross ist - etwa auch unter den Kommunisten, die sich bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr noch als Kritiker der Kremlpartei empfohlen hatten. Alle fünf Parteien in der Staatsduma unterstützen den Krieg. Galljamow meint, eine Protestwahl sei noch das beste Instrument, um seinen Unmut zu äussern.

Weil viele Oppositionelle entweder im Gefängnis sind oder das Land verlassen haben, ist das Feld der Kremlgegner klein. Auch viele nicht politisch engagierte Russen, die entsetzt sind über den Krieg und angesichts von Sanktionen des Westens keine Zukunft mehr in ihrer Heimat sehen, haben das Land verlassen.

Viele Kremlgegner - unter ihnen Alexej Nawalny - sitzen im Gefängnis oder befinden sich nicht mehr in Russland.
Viele Kremlgegner - unter ihnen Alexej Nawalny - sitzen im Gefängnis oder befinden sich nicht mehr in Russland.
Bild: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

Dagegen werben etwa Politiker der liberalen demokratischen Oppositionspartei Jabloko vor der Wahl nicht nur damit, dass sie noch im Land sind. Sie betonen vor allem, dass sie «Für den Frieden!» eintreten. «Jabloko ist immer für den Frieden eingetreten und den Schutz des Lebens der Menschen», sagt der prominente St. Petersburger Politiker Boris Wischnewski. Die Partei fordert eine Rückkehr Kiews und Moskaus an den Verhandlungstisch für Friedensgespräche.

Allerdings hat Jabloko nur in zwölf Regionen Kandidaten ins Rennen geschickt. Wischnewski beklagt, sie würden wegen ihrer «Anti-Kriegs-Haltung» mit Ordnungs- und Strafverfahren überzogen und festgenommen. Einigen sei die Registrierung zur Wahl verwehrt worden.

«Russland muss siegen»

Öffentlicher Protest gegen den Krieg wird nicht geduldet. Wer mit den Leuten auf der Strasse etwa in der Stadt Samara an der Wolga spricht, findet viele Russen, die den Überfall auf das Nachbarland verurteilen - aber auch Unterstützer von Putins Kurs. In dem einst für den Sowjetdiktatur Josef Stalin gebauten Weltkriegsbunker sagt der Museumsführer Wladimir Romanowitsch über die Ukraine: «Es musste gehandelt werden, sonst wäre Russland angegriffen worden.»

Belege für diese These Putins gibt es nicht. Aber in dem kleinen Hof vor dem Stalin-Bunker bricht eine Diskussion aus. Ein Paar aus Uljanowsk entgegnet, Russland habe kein Recht, Krieg gegen das «Brudervolk» zu führen. Ein anderer Mann meint, Putin habe zwar mit dem Einmarsch einen schweren Fehler gemacht. Was er nun aber angefangen habe, müsse er auch beenden. Auf eine Formel können sich alle einigen: «Russland muss siegen. Sonst ist es in Gefahr.»

Auch in Samara hängen - wie vielerorts im Land - Plakate mit Aufrufen, sich den Freiwilligenbataillons für den Kampf in der Ukraine anzuschliessen. Selbst russische Zeitungen berichten inzwischen offen über Personalprobleme an der Front. Demnach melden sich zu wenige für den Krieg. Seit Monaten wird daher befürchtet, Putin könnte Zwang anwenden und eine Generalmobilmachung anordnen.

Interesse am Krieg nimmt ab

Dabei sinkt inzwischen das Interesse an dem Krieg, wie das Meinungsforschungsinstitut Lewada ermittelt hat. Vor allem die über 55-Jährigen unterstützen laut einer Umfrage das Vorgehen der russischen Armee - rund 85 Prozent. In der Altersgruppe 18 bis 24 Jahre sind es demnach 65 Prozent der Befragten. Während die Mehrheit der Älteren demnach für eine Fortsetzung der Kampfhandlungen ist (55 Prozent), wollen die Jüngeren (54 Prozent) Friedensverhandlungen. Verändert haben sich der Umfrage zufolge die Erwartungen an die Dauer des Kriegs. 31 Prozent der Befragten gehen aktuell davon aus, dass das Blutvergiessen mehr als ein Jahr dauert, deutlich mehr als im Mai.

Dass das Land zunehmend mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges kämpfen muss, darunter Sanktionen, Inflation und Rezession, wischt Putin beiseite. Er betont stets, dies sei der Preis für Russlands Unabhängigkeit und eigenständige Politik. Geschürt wird nun überall Nationalstolz - mit Beginn des Schuljahrs gibt es bereits für Kinder patriotischen Unterricht, Hymnensingen und Flaggenhissen.