Neue Protest-Generation «Junge Leute gehen für uns raus und stecken die Prügel ein»

AP/phi

16.9.2018

In Russland wächst eine neue Protest-Generation heran. Einige Jugendliche werden seit Geburt nur von Putin regiert: Sie setzen auf Sitzfleisch und Social Media, um das zu ändern.

Die meisten waren schon wieder nach Hause gegangen – zurück blieb ein «harter Kern» aus Teenagern und jungen Erwachsenen. Wer die russischen Protestwellen der vergangenen Jahre verfolgt hat, dürfte überrascht gewesen sein. Denn die Jugend galt bisher als wichtige Stütze des Systems.

Wer in Russland unter 18 ist, hat nie einen anderen Machthaber als Wladimir Putin erlebt. Und die Vorteile der lange Zeit gut laufenden Wirtschaft schienen die fehlenden Freiheiten kompensieren zu können. Doch inzwischen wächst gerade unter jungen Russen die Wut.

Anti-Putin-Protest am 9. September 2018 in Moskau.
Anti-Putin-Protest am 9. September 2018 in Moskau.
Bild: Keystone

«In meinen Kreisen sind mehr und mehr Leute auf Protest eingestellt», sagt der Student Andrej Sabara. Am Sonntag übernachtete der 20-Jährige mit zwei Dutzend Gleichaltrigen in einem Widerstandscamp auf den Strassen Moskaus.

«Meine Eltern unterstützen die Demonstrationen», betont er. Sie seien bloss zu ängstlich, um an Kundgebungen teilzunehmen. Bei anderen sei das ähnlich. «Das Mädchen, das gestern Abend auf Instagram gestreamt hat – ihre Mutter hat uns geholfen, sie hat uns Essen gebracht.»

Andrej Sabara während seines Gesprächs mit der Nachrichtenagentur AP in Moskau.
Andrej Sabara während seines Gesprächs mit der Nachrichtenagentur AP in Moskau.
Foto: Mstyslav Chernov/AP/dpa

Ältere eingeschüchtert

Nach dem Zerfall der Sowjetunion dominierten bei Protesten in Russland zunächst meist ältere Menschen. Die Generation, die damals auf das Rentenalter zusteuerte, fand sich im Kapitalismus schlecht zurecht. Die Kinder der Unzufriedenen waren hingegen vollauf damit beschäftigt, sich unter den neuen Bedingungen eine berufliche Existenz aufzubauen.

Die Moskauer Polizei räumt am 16. Mai 2012 ein Protest-Camp.
Die Moskauer Polizei räumt am 16. Mai 2012 ein Protest-Camp.
Bild: Keystone

Als Putin 2011 seine Rückkehr ins Amt des Präsidenten ankündigte, war es die aufstrebende, mittelalte Mittelschicht, die auf die Strassen ging. Doch das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte im Mai 2012 zeigte Wirkung: Die meisten Angehörigen dieser Generation blieben in der Folge lieber zu Hause – aus Angst.

Dieses Bild entstand bei einer Demonstration in Moskau am 6. Mai 2012.
Dieses Bild entstand bei einer Demonstration in Moskau am 6. Mai 2012.
Keystone

Die Einschüchterung wurde immer mehr zur Methode. Und die unter Putin aufgewachsenen Teenager sahen lange auch gar keinen Grund zu protestieren. Dank der russischen Ölindustrie ging es ihnen materiell vergleichsweise gut. In den vergangenen paar Jahren ist Putin aus Sicht vieler Jugendlicher aber zu weit gegangen.

Ältere sollten sich schämen

Die penetrante anti-westliche Propaganda kommt bei ihnen nicht gut an – und die  ausufernde Korruption tut ihr Übriges. Trotz strenger Verbote und harter Strafen erheben sie immer öfter ihre Stimmen. Anders als ihre Eltern zeigen sie dabei auch weniger Angst vor der Polizeigewalt.

«Die jungen Leute gehen stellvertretend für ihre Eltern auf die Strassen», sagt die in Moskau ansässige Politologin Ekaterina Schulmann. Die ältere Generation scheue das Risiko. «Aber sie teilt die gleichen Werte.» Der Trend ist nicht nur in Moskau zu erkennen. In der am Ural gelegenen Grossstadt Jekaterinburg kam es am vergangenen Sonntag ebenfalls zu grösseren Protesten.

Eine Demonstration in Moskau am 9. September 2018 – Teilnehmer Viktor (im Vordergrund) ist gerade mal 16 Jahre alt.
Eine Demonstration in Moskau am 9. September 2018 – Teilnehmer Viktor (im Vordergrund) ist gerade mal 16 Jahre alt.
Bild: Keystone

Die Menge sei wesentlich jünger gewesen als erwartet, sagte der kremlkritische Ex-Bürgermeister Jewgeni Roisman. «Junge Leute gehen für uns raus und stecken die Prügel ein», erklärte er zu Beginn der Woche in einem Internet-Video. Die Älteren sollten «sich schämen». Landesweit wurden in Russland am Sonntag mehr als tausend Demonstranten von der Polizei festgenommen.

Wind of Change

Einer der Auslöser der aktuellen Protestwelle war ein YouTube-Video des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, in dem es um die privaten Reichtümer von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geht. Das Video von Anfang 2017 wurde mehr als 27 Millionen Mal aufgerufen. Gerade über YouTube und andere soziale Medien haben sich viele russische Teenager politisiert.

Das Video von Nawalny wurde bisher knapp 28 Millionen mal angeschaut.

Inzwischen fühlen sich etliche von ihnen aber offenbar ermutigt, auch ausserhalb des Internets aktiv zu werden. «Ich spüre, dass sich etwas verändert in der Jugend – in ihrem Bewusstsein», sagt der Schüler Viktor, der nach eigenen Angaben seit dem vergangenen Jahr an Demonstrationen teilnimmt.

«Früher hat man bei Kundgebungen nur irgendwas gerufen und dann sind alle wieder gegangen», sagt der 16-Jährige, der nur seinen Vornamen nennen will, um keine Probleme in der Schule zu bekommen. «Heute bleiben die Leute, organisieren Mahnwachen, marschieren bis zum Kreml.»

Grosses persönliches Risiko

Am Sonntag liessen sich Dutzende Demonstranten vor dem Kreml auch von Strassensperren nicht abhalten und stiessen mit der Polizei zusammen. Nachdem die Sicherheitskräfte mehrere Personen verprügelt und in Gewahrsam genommen hatten, löste sich die Kundgebung weitgehend auf.

Etwa 20 junge Demonstranten blieben aber und schlugen vor Ort ihr Lager auf. Am nächsten Morgen wurden sie von Polizisten aufgefordert, zur Wache mitzukommen. Trotzdem kam es in Moskau in den folgenden vier Tagen vereinzelt zu weiteren Protesten.

Nicht nur beim eigentlichen Demonstrieren gehen die Jugendlichen ein grosses persönliches Risiko ein. Selbst das Erwähnen von Zusammenstössen mit der Polizei auf Twitter oder in Blogs wird mitunter hart bestraft. Doch angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen scheinen viele bereit, dieses Risiko einzugehen.

«Die jungen Leute lehnen die anti-westliche Stimmungsmache und das Festklammern an alten Werten ab», sagt Lew Gudkow vom russischen Meinungsforschungsinstitut Lewada. Die Teenager, die sich heute über Messenger-Dienste verabredeten und dann von der Polizei verprügelt würden, bekämen gerade einen Crashkurs in politischem Aktivismus. «Wir können davon ausgehen, dass daraus schon bald ein gefestigter Widerstand gegen das autoritäre Regime entsteht.»

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