Schwedischer SonderwegIm Norden schrillen die Alarmglocken
dpa/tsha
29.10.2020
Der schwedische Sonderweg in der Coronakrise ist breit diskutiert worden. Ein Resultat der Strategie waren in der ersten Jahreshälfte vergleichsweise hohe Infektions- und Todeszahlen. Diesmal sieht es besser aus. Aber auch im hohen Norden schrillen die Alarmglocken.
Wer zuletzt einen Abstecher nach Stockholm gemacht hat, der wird sich wie in einer anderen Welt vorgekommen sein: Die Fahrt mit der vollen Tunnelbana, der U-Bahn der schwedischen Hauptstadt, wirkt wie aus einer präcoronageschichtlichen Zeit – Masken trägt so gut wie niemand, auf Anzeigen und Stickern wird lediglich darauf hingewiesen, dass man Abstand zu seinen Mitreisenden halten solle. Auch auf der Einkaufsmeile Drottninggatan erscheint das Leben fast wie im Jahr 2019. Das zeigt: Schweden bleibt seinem Sonderweg im Kampf gegen das Coronavirus auch im Herbst treu.
Doch an dem skandinavischen EU-Land mit der ausgiebig diskutierten Coronastrategie gehen wieder steigende Infektionszahlen ebenso nicht vorbei wie am Rest Europas. Am Mittwoch kamen in der Datenbank der Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten 2'128 neue Infektionen innerhalb von 24 Stunden hinzu – nach Angaben des Senders SVT war das der höchste Tageswert seit Pandemiebeginn. Bereits in der vergangenen Woche war die Zahl der neuen Coronafälle um 70 Prozent im Vergleich zur Vorwoche in die Höhe geschossen.
«Auch in Schweden verschlechtert sich die Lage», bilanzierte der Staatsepidemiologe Anders Tegnell – für viele das Gesicht des Sonderwegs – am Dienstag auf einer seiner unzähligen Pressekonferenzen zur Coronalage. Die steigenden Zahlen liessen sich teils auf eine ausgeweitete Infektionsverfolgung und vermehrte Tests zurückführen, aber es gebe auch eindeutig eine zunehmende Ausbreitung der Infektionen. Tegnell machte klar: «Es ist ein schwieriger Herbst – und es wird wohl noch schwieriger, bevor das hier vorbei ist.»
In manchen Ländern hat sich die Meinung festgesetzt, die Schweden könnten trotz Pandemie weiterhin tun und lassen, was sie wollten. Das stimmt so nicht. Auch in Schweden wurden Coronamassnahmen ergriffen, unter anderem zum allgemeinen Abstandhalten angemahnt, Grossveranstaltungen und Versammlungen mit mehr als 50 Teilnehmern untersagt. Besuche in Pflegeheimen waren bis Anfang Oktober monatelang verboten. Die wissenschaftlich höchst umstrittene Herdenimmunität war nie erklärtes Ziel der Gesundheitsbehörde, wie Tegnell mehrmals betont hatte.
Freizügige Massnahmen
Was stimmt: Die Coronamassnahmen fielen weitaus freizügiger aus als in den meisten anderen Ländern. Geschäfte, Restaurants und Schulen blieben durchweg offen, eine Empfehlung an Über-70-Jährige zur Vermeidung von Kontakten wurde vor einer Woche gar zurückgenommen. Insgesamt wurde nicht mit strikten Verboten auf die Eindämmung des Coronavirus hingearbeitet, sondern mit Empfehlungen, Ratschlägen und Appellen an die Vernunft der Bürger.
Die meisten Schweden folgten und folgen dem, viele von ihnen sind beispielsweise wie von Behördenseite empfohlen längst ins Homeoffice gewechselt. Aber nicht alle beherzigen die Aufrufe, wie zuletzt etwa Aufnahmen von dichtem Gedränge in einer hippen Diskothek in Stockholm zeigten. «Auf enge Partys zu gehen, die riskieren, die Ausbreitung der Infektionen zu erhöhen: Ne, das ist nicht klug», sagte Regierungschef Stefan Löfven dazu dem «Aftonbladet».
Der Sonderweg ist für die Schweden im Vergleich zum Rest Skandinaviens mit hohen Infektions- und Todeszahlen einhergegangen. Bis heute gab es knapp 118'000 Infektionen und mehr als 5'900 Tote in Verbindung mit Covid-Erkrankungen im Land. Besonders die hohe Zahl an Covid-Toten in den Pflegeheimen bedauerte Tegnell. Die Coronazahlen gingen auf dem Weg in den Sommer zudem erst einige Wochen später entscheidend zurück als anderswo.
Die Alarmglocken schrillen
Nun sieht es für die Schweden trotz der sich wieder zuspitzenden Lage besser aus: Bei den Neuinfektionen der vergangenen 14 Tage pro 100'000 Einwohner liegt ihr Land etwas unter den Werten von etwa Deutschland und Dänemark. Europaweit können momentan nur wenige Länder noch niedrigere Zahlen vorweisen, darunter die nordischen Nachbarn Norwegen und Finnland.
Dennoch schrillen auch in Schweden die Alarmglocken: Besonders in der Region um die Studentenstadt Uppsala nördlich von Stockholm sowie im südschwedischen Skåne (Schonen) steigen die Infektionszahlen, aus Stockholm selbst und der Region Västra Götaland kommen ebenfalls beunruhigende Signale. «Insgesamt betrachtet sind wir in einer ganz anderen Lage als die, die wir vor nur einer Woche hatten. Und das ist eine ernste Lage», sagte Skånes führende Infektionsschützerin Eva Melander am Dienstag.
Das hat nun Folgen: In Skåne werden die Menschen vorläufig bis zum 17. November dazu angehalten, Kontakt mit Personen aus anderen Haushalten ebenso zu vermeiden wie den Nahverkehr und soziale Veranstaltungen wie Fussballspiele und anderen Sport. Ähnliches gilt bereits seit einer Woche in Uppsala. All das sind «allmänna råd», allgemeine Ratschläge – verboten wird in Schweden eben nur ungern.