Russische Dissidenten Sie suchen Schutz vor Putin – und landen in den USA in Haft

tjnj

1.12.2022

Russische Geflüchtete landen überproportional oft in Abschiebegefängnissen, wie diesem hier in Tacoma, Washington. Ein Grund dafür dürfte die Angst vor Spionage sein. (Symbolbild)
Russische Geflüchtete landen überproportional oft in Abschiebegefängnissen, wie diesem hier in Tacoma, Washington. Ein Grund dafür dürfte die Angst vor Spionage sein. (Symbolbild)
Keystone

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine fliehen auch viele Russ*innen aus ihrem Heimatland, oft mit dem Ziel USA. Doch selbst Dissident*innen haben gegen das amerikanische Einwanderungsrecht schlechte Karten. 

tjnj

«Ich rufe alle Russen dazu auf, die Wahrheit zu erkennen und die Lügen der russischen Medien zu durchschauen», schrieb die russische Ärztin Mariia Shemiatina, nachdem ihr Heimatland die Ukraine überfallen hatte, auf Instagram. Posts wie dieser wurden von den Behörden gelöscht, ihr Account bald deaktiviert.

Weil sie sich weigerte, Petitionen zu unterschreiben und Demonstrationen zu besuchen, um ihre Unterstützung für die Politik des Kremls zu bekunden, kürzte das Krankenhaus, in dem Shemiatina arbeitete, ihr Gehalt. Dann erfuhr sie, dass die Polizei nach ihr und ihrem Ehemann Boris Shevchuk fahndete.

Handschellen statt offenen Armen

Shemiatina und Shevchuk sind nur zwei von zahlreichen russischen Dissident*innen, die ihr Heimatland aus Furcht vor Repressionen oder einem Einsatz an der Front verliessen, um sich auf den Weg in die USA zu machen.

Wie die «New York Times» berichtet, gingen viele von ihnen davon aus, mit offenen Armen empfangen zu werden – schliesslich seien sie Verbündete im Kampf für mehr Demokratie in Russland.

Was die Geflüchteten erwartete, war in vielen Fällen das Gegenteil: Nach Übertreten der US-Grenze wurden ihnen Handschellen angelegt, ihre Besitztümer konfisziert. Dann wurden sie abgeführt – in Haftanstalten für illegale Einwanderer*innen.

Drastischer Anstieg russischer Geflüchteter

Seit Beginn des Krieges ist die Zahl russischer Asylbewerber*innen in den USA stark angestiegen. Im Steuerjahr 2022 wurden allein an der Südgrenze rund 21'750 russische Staatsbürger gezählt, die Zuflucht suchten. 2020 waren es 470.

Die amerikanische Einwanderungsbehörde ICE veröffentlicht keine Statistiken zu den Nationalitäten der Menschen, die sie in Gewahrsam nimmt. Die auf Einwanderungsrecht spezialisierte Anwältin Svetlana Kaff beobachtet jedoch, dass proportional mehr Russ*innen inhaftiert werden. Ein Grund dafür könnte die Furcht vor russischen Spion*innen auf amerikanischem Boden sein.

Die Biden-Administration steht bei Aktivist*innen, die sich für eine Reform der Einwanderungsgesetze einsetzen, in der Kritik. Biden hatte eine solche Reform im Wahlkampf angekündigt, sie bisher aber nicht umgesetzt.

Monate hinter Gittern

Nach amerikanischem Recht haben alle Menschen, die US-Grund betreten, ein Recht darauf, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Damit der genehmigt wird, muss man beweisen, aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, politischer Haltung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsgruppe verfolgt zu werden.

Manche kommen, nachdem sie aufgegriffen wurden, direkt frei und werden dann vor Gericht geladen, um den Beweis für eine Verfolgung nach diesen Prinzipien zu erbringen. Wer in einer Haftanstalt landet, hat hingegen kaum Möglichkeiten, Anwält*innen zu verpflichten und eine Strategie zu erarbeiten. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen wird abgeschoben.

Die Internierung kann mehrere Monate dauern, in den Fällen Shemiatinas und Shevchuks, die in verschiedenen Haftanstalten untergebracht wurden, waren es sechs Monate.

Brutale Methoden

Wie viele andere Insassen berichteten beide von bestenfalls gleichgültiger, oft grausamer Behandlung durch das Wachpersonal. Shemiatina wurde eines Tages bewusstlos aufgefunden, wiederholt hatte sie unerklärliche Krampfanfälle. Zeitweise verlor sie sogar die Fähigkeit zu laufen.

In einem Spital wurde ein nicht näher bestimmbares neurologisches Problem diagnostiziert. Nach der Diagnose musste sie direkt zurück in ihre Haftanstalt.

Shevchuk hatte beantragt, in ein anderes Gefängnis verlegt zu werden, nachdem ein Häftling Gewalt gegen die russischen Insassen angekündigt hatte. Der Wächter, der ihn in eine andere Unterkunft brachte, habe ihn zu Boden geschlagen, eine Kopfverletzung sei die Folge gewesen. «Da wurde mir klar, dass ich Russland für ein Land verlassen hatte, das genauso wie Russland ist», sagt Shevchuk.

Einwanderungsbehörde betont humane Unterbringung

Die ICE wollte sich auf Anfrage der «New York Times» nicht zu Einzelfällen äussern, betonte aber, sie würde sicherstellen, dass die Menschen in ihren Haftanstalten «human behandelt, vor Verletzungen geschützt und ihnen angemessene medizinische Behandlung» zukomme.

Das Paar – Shevchuck ist wie Shemiatina Arzt – engagierte sich bereits vor dem Krieg gegen Putins Regime. So unterstützten sie den Kremlkritiker Alexei Nawalny vor dessen Verhaftung im Januar 2021. 

Ob ihr jahrelanges Engagement gegen Wladimir Putin ihnen zu Asyl verhelfen wird, muss sich noch zeigen. Anfang November kam das Paar frei, aber nur weil ein befreundeter russischer Dissident die 20'000 Dollar Kaution aufbrachte, die die ICE dafür forderte. Ihr Prozess steht noch aus.