Kampagne von ganz oben?Russische Promis stehen wegen Nackt-Party am Pranger
dpa/toko
14.1.2024 - 20:56
Seit Wochen empört sich Russland über Promis, die leicht bekleidet in einem Nachtclub feierten. Für einige hat der Skandal ernste Folgen. Viele sehen darin ein Exempel für Repression und Einschüchterung im Land.
DPA, dpa/toko
14.01.2024, 20:56
14.01.2024, 20:59
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
In Russland sorgt eine freizügige Party von Promis seit Wochen für Empörung.
Russlands Medienaufsichtsbehörde teilte zudem mit, sie habe auf Party-Fotos «Anzeichen von LGBT-Propaganda» entdeckt.
Insbesondere seit Kriegsbeginn ist der Kampf gegen einen angeblich aus dem Westen importierten «Werteverfall» Kernbestandteil kremltreuer Propaganda.
Laut Recherchen der «Moscow Times» wurde die Kampagne gegen die Promis von ganz oben organisiert. Auch viele Experten glauben an eine gesteuerte Empörung.
Alles begann mit einer Nackt-Party, die streng genommen nicht einmal eine richtige Nackt-Party war. «Almost naked» – «fast nackt» – sollten ihre Gäste an diesem Abend Ende Dezember im angesagten Moskauer Nachtclub «Mutabor» erscheinen, hatte die russische Influencerin und Party-Organisatorin Anastassija Iwlejewa in die Einladungen geschrieben. Und das taten die Gäste. Männer kamen oberkörperfrei, Frauen in dünnen Netzkleidern und Strapsen. Der Rapper Vacio trug lediglich eine Socke über seinem Geschlechtsteil, Iwlejewa selbst einen schwarzen BH unter einem fast durchsichtigen Oberteil. Der Abend war – glaubt man verschiedenen Videos – feucht-fröhlich und ausgelassen. Doch als die Aufnahmen kurz darauf die russische Öffentlichkeit erreichten, war der Spass vorbei.
Menschen zeigten sich empört und angewidert, in sozialen Netzwerken hagelte es Kritik. Iwlejewa erklärte sich in einem Instagram-Video, zu diesem Zeitpunkt wirkte sie noch gelassen, machte sich gar über die Beschwerden lustig: «Ich liebe sowas», scherzte sie damals in die Kamera.
Wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende gewesen, hätte man sie abtun können als Überreaktion einer in Teilen prüden russischen Gesellschaft. Doch die Geschichte war nicht zu Ende, stattdessen fing sie gerade erst richtig an. Und sie offenbart auf eindrückliche Weise, wie gnadenlos der russische Machtapparat knapp zwei Jahre nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine im eigenen Land gegen vieles vorgeht, was anders oder westlich erscheint. Die Wut über ein bisschen nackte Haut offenbart viel über die Stimmung in einem Land voller Repression, Einschüchterung und selbst ernannter Moralhüter.
Zuerst nahmen die Beschwerden zu. Den Stars wurde vorgeworfen, es sei geschmacklos, halb nackt zu tanzen, während russische Soldaten an der Front ihr Leben riskierten. Dann folgten Strafanzeigen. Russlands Medienaufsichtsbehörde teilte zudem mit, sie habe auf Party-Fotos «Anzeichen von LGBT-Propaganda» entdeckt. Unter «LGBT-Propaganda» versteht die russische Justiz Äusserungen und Auftritte jeglicher Art, die etwa homosexuelle Liebe positiv darstellen. Insbesondere seit Kriegsbeginn ist der Kampf gegen einen angeblich aus dem Westen importierten «Werteverfall» Kernbestandteil kremltreuer Propaganda.
Nur zwei Tage nach der besagten Feier wurde Rapper Vacio – der Mann mit der Penissocke – für 15 Tage inhaftiert. Ein Moskauer Gericht warf dem 25-Jährigen «Rowdytum» vor, ausserdem wurden gegen ihn persönlich Ermittlungen wegen «LGBT-Propaganda» eingeleitet. Vacio, der mit bürgerlichem Namen Nikolai Wassiljew heisst, entschuldigte sich öffentlich. Trotzdem wurde Anfang Januar bekannt, dass er mittlerweile auch noch einen Musterungsbescheid vom Militär ausgehändigt bekommen hat. Im schlimmsten Fall droht ihm damit der Fronteinsatz.
Auch Gastgeberin Iwlejewa entschuldigte sich, dieses Mal unter Tränen und ohne jeden Hauch von Belustigung. «Ich bin mir meiner Verantwortung für das, was passiert ist, voll und ganz bewusst», sagte sie. Sie wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet mehr als 1000 Euro verurteilt. Von den anderen Partygästen, zu denen TV-Moderatorin Xenia Sobtschak sowie die Musiker Dima Bilan und Lolita zählen, leisteten nach und nach immer mehr öffentlich Abbitte. Einige verloren Verträge und Sponsoren, mehrere Auftritte wurden abgesagt. Der populäre Sänger Filip Kirkorow erklärte, eines seiner Auftrittshonorare an die vom Krieg betroffene russische Grenzregion Belgorod zu spenden.
Kampagne kam von ganz oben
Der Besitzer des Clubs «Mutabor» wiederum schenkte der russisch-orthodoxen Kirche einem Medienbericht zufolge Reliquien des heiligen Nikolaus von Myra. Wenig später verschwand der Medienbericht wieder und Experten meldeten Zweifel an der Echtheit der Gebeine an. Unabhängige russische Journalisten, die mitunter mehrmals täglich über den Party-Skandal berichten, dürften sich über all diese kuriosen Wendungen schon längst kaum noch wundern.
Laut Recherchen der «Moscow Times» wurde die Kampagne gegen die Promis von ganz oben organisiert. Wenige Monate vor der Präsidentenwahl am 17. März, bei der sich Wladimir Putin seine fünfte Amtszeit sichern will, habe der Kreml eine Chance gewittert, «den Ärger weg vom Kreml und hin zu den ‹gierigen Stars› zu lenken», zitierte das Blatt eine anonyme Quelle in der russischen Regierung.
Sicher belegen lässt sich das zwar nicht und offiziell kommentierte der Kreml die Aufregung rund um die «Almost naked»-Party kaum. Doch auch viele Beobachter glauben an eine gesteuerte Empörung. Der Politologe Abbas Galljamow etwa vermutet, der Kreml habe die Situation genutzt, um davon abzulenken, dass kürzlich die Kritikerin Jekaterina Dunzowa noch vor ihrer offiziellen Registrierung zur Präsidentschaftskandidatin aus dem Rennen gekickt worden war.
Der Nachtclub «Mutabor», in dem alles Ende Dezember anfing, ist mittlerweile geschlossen worden – mindestens für 90 Tage und laut offizieller Begründung wegen angeblicher Hygiene-Verstösse. Wer das Fabrikgelände, auf der sich die Räumlichkeiten befinden, nun auch nur betreten will, wird von einer Wärterin abgewimmelt. Sobald sie das Wort «Mutabor» hört, blafft sie barsch zurück: «Dorthin gibt es keinen Zutritt!»