Stichwahl in der TürkeiWird ein Rechtsnationaler zum Zünglein an der Waage für Erdogan?
AP / tchs
15.5.2023
Stichwahl in der Türkei: Menschen in Istanbul und im Erdbebengebiet blicken mit gemischten Gefühlen auf den 28. Mai
«Ich möchte, dass sich die Bedingungen ändern und wir das bekommen, was wir verdienen, sowohl für mich als auch für mein Kind. Denn im Moment steuern wir auf Dunkelheit und Untergang zu. Denn ein Teil unseres Volkes, der nicht vernünftig denkt, gew
15.05.2023
Klicdaroglu oder Erdogan? Die Entscheidung, wer das neue Staatsoberhaupt der Türkei wird, fällt in der Stichwahl. Dabei könnte die Wahlempfehlung eines Mannes mitentscheidend sein.
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15.05.2023, 23:55
16.05.2023, 03:14
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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Präsidentschaftswahlen: Am 28. Mai kommt es in der Türkei zur Stichwahl zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und Herausforderer Kemal Kilicdaroglu.
Beide Kandidaten geben sich optimistisch und versuchen, ihre Anhänger*innen zu mobilisieren.
Der rechtsnationale Sinan Organ könnte mit einer Wahlempfehlung Einfluss auf die Stichwahl nehmen.
Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan hat bei der Präsidentenwahl in der Türkei die meisten Stimmen erhalten, aber die für eine Wiederwahl nötige Mehrheit verfehlt. Das teilte der Vorsitzende des Obersten Wahlrats, Ahmet Yener, am Montag mit. Erdogan muss nun am 28. Mai gegen seinen wichtigsten Herausforderer Kemal Kilicdaroglu in einer Stichwahl antreten.
Erdogan kam nach Angaben von Yener nach vorläufigen Ergebnissen auf 49,51 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu erhielt 44,88 Prozent, der dritte Kandidat Sinan Ogan 5,17 Prozent. Bei der letzten Wahl 2018 hatte Erdogan auf Anhieb mit 52,6 Prozent der Stimmen gesiegt.
Bei der parallel abgehaltenen Parlamentswahl zeichnete sich eine Mehrheit für Erdogans Partei und ihre Verbündeten ab. Nach vorläufigen Ergebnissen kam Erdogans islamisch-konservative AKP auf 321 Sitze, die Opposition auf 213 und ein prokurdisches Bündnis auf 66. Das Parlament mit seinen 600 Sitzen hat seit der Verfassungsreform von 2017 nur noch eingeschränkte Macht.
Erdogan und Klicdaroglu geben sich optimistisch
Howard Eissenstat, ein Dozent für Geschichte und Politik des Nahen Ostens an der St. Lawrence University in New York, sagte, dieses Ergebnis könnte für Erdogan von Vorteil sein, wenn Wähler eine «gespaltene Regierung» vermeiden wollten.
Erdogan sagte in der Nacht vor Anhängern in der Hauptstadt Ankara siegessicher: «Dass die endgültigen Wahlergebnisse noch nicht vorliegen, ändert nichts an der Tatsache, dass das Volk uns gewählt hat», sagte er. Falls es zu einer Stichwahl komme, werde er aber auch das akzeptieren. Er verwies auf Stimmen von Türkinnen und Türken im Ausland, die noch gezählt werden müssten. In dieser Gruppe hatte er 2018 etwa 60 Prozent Zustimmung erhalten.
CHP-Politiker Kilicdaroglu, der von einem Sechs-Parteien-Bündnis unterstützt wurde, erklärte: «Wir werden die zweite Runde absolut gewinnen (...) und Demokratie bringen.» Erdogan habe das Vertrauen des Landes verloren.
Präsidentschaftswahl als Richtungsentscheidung
Die Wahl galt als Richtungsentscheidung darüber, ob das Nato-Land Türkei weiter einen autoritären Kurs unter Erdogan verfolgt oder einen demokratischeren Pfad unter Kilicdaroglu einschlägt. Wahlberechtigt waren mehr als 64 Millionen Menschen, die Wahlbeteiligung lag bei knapp 89 Prozent. In den meisten Umfragen hatte Kilicdaroglu knapp vorn gelegen. Vertreter von Opposition und Regierung überzogen sich noch während der laufenden Auszählung gegenseitig mit Vorwürfen, etwa der Sabotage.
Wichtige Wahlkampfthemen waren die Wirtschaftskrise, steigende Lebenshaltungskosten und die Folgen des Erdbebens von Anfang Februar. Nach Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu erzielte Erdogans AKP trotz verbreiteter Kritik an der Reaktion der Regierung auf das Beben in zehn der elf betroffenen Provinzen eine Mehrheit.
Kilicdaroglus Versprechen: Mehr Demokratie
Nach 20 Jahren an der Macht bewarb sich Erdogan um eine weitere fünfjährige Amtszeit als Präsident. Er vertritt anders als die meisten Wirtschaftsexperten die Auffassung, niedrige Zinsen könnten die Inflation dämpfen und hat entsprechend Druck auf die Zentralbank ausgeübt. Um Wähler zu besänftigen, die unter der zuletzt bei 44 Prozent liegenden Inflation leiden, erhöhte er Renten und Löhne und subventionierte Gas- und Strompreise. Im Wahlkampf warf er Kilicadaroglu vor, dieser arbeite mit Terroristen zusammen und unterstütze «abartige» Rechte sexueller Minderheiten.
Kilicdaroglu versprach, die Unterdrückung der freien Meinungsäusserung und andere Formen des demokratischen Rückschritts rückgängig zu machen und die durch hohe Inflation und Währungsabwertung angeschlagene Wirtschaft zu sanieren.
Aussenpolitisch bemüht sich Erdogan im Ukrainekrieg um eine vermittelnde Position. Die Türkei hat zusammen mit den Vereinten Nationen das Getreideabkommen eingefädelt, das den Kriegsgegnern Ukraine und Russland den Export von Getreide über das Schwarze Meer und durch den Bosporus auf die Weltmärkte ermöglicht. Bei der Nato-Erweiterung verzögert Erdogan den Beitritt Schwedens zur Allianz. Er wirft Schweden von, zu nachgiebig gegenüber prokurdischen Gruppen zu sein, die Ankara als Terroristen betrachtet.
Wen empfiehlt der rechtsnationale Kandidat?
Der rechtsnationale Kandidat Ogan hat noch nicht erklärt, wen er seinen Wählerinnen und Wählern für die Stichwahl empfiehlt. Beobachter glauben, dass seine Anhänger nach 20 Jahren Erdogan eine Veränderung wollten, aber von Kilicdaroglus Allianz nicht überzeugt waren. Für Ogans Entscheidung könnte unter anderem der künftige Umgang mit den 3,4 Millionen Flüchtlingen aus Syrien eine Rolle spielen.
Frank Schwabe, Leiter einer Wahlbeobachtermission des Europarats, sagte, die türkische Demokratie sei erstaunlich widerstandsfähig. Trotz hoher Wahlbeteiligung und einer echten Wahlmöglichkeit erfülle das Land aber nicht die Grundprinzipien einer demokratischen Wahl. Michael Georg Link, Leiter der OSZE-Wahlbeobachtermission, sagte, die Kriminalisierung einiger politischer Kräfte wie die Festnahme von Oppositionspolitikern habe umfassenden politischen Pluralismus verhindert.