Entscheidung in der Türkei Syrische Flüchtlinge würden Erdogan wählen

AFP, Anne Chaon, smi

13.5.2023

Abfalltrennung in Gaziantep: Syrische Geflüchtete sind billige Arbeitskräfte in der Türkei. Der türkischen Opposition dienen sie auch als Sündenböcke im Wahlkampf.
Abfalltrennung in Gaziantep: Syrische Geflüchtete sind billige Arbeitskräfte in der Türkei. Der türkischen Opposition dienen sie auch als Sündenböcke im Wahlkampf.
IMAGO/ZUMA Wire

Viele in der Türkei und im Westen hoffen auf einen Wahlsieg des Kandidaten der Opposition, Kilicdaroglu. Nicht so viele syrische Flüchtlinge. Sie fürchten, ausgewiesen zu werden, sollte Erdogan verlieren.

AFP, Anne Chaon, smi

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  • In den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wird es knapp für Langzeit-Herrscher Erdogan und seine AKP.
  • Viele der Millionen syrischen Geflüchteter in der Türkei fürchten einen Sieg der Opposition.
  • Der aussichtsreichste Gegenkandidat das amtierenden Präsidenten, Kemal Kilicdaroglu, verspricht seinen Wähler*innen, die syrischen Flüchtlinge binnen weniger Jahre zur Rückkehr zu bewegen. 

Für die Wahlen am Sonntag in der Türkei wünscht sich Neros Hussein nur eines: «Dass Erdogan gewinnt!» Neros ist aus dem nordsyrischen Kobane geflüchtet – und sie ist überzeugt, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan «uns helfen wird, hier zu bleiben».

Rund 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge hat die Türkei nach den offiziellen Zahlen aufgenommen, vermutlich sind es aber mehr als fünf Millionen. Die meisten von ihnen fürchten einen Sieg des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu von der sozialdemokratischen CHP, der die Rückführung der Syrer innerhalb von zwei Jahren angekündigt hat.

Die 35-jährige Neros Hussein und ihr Mann Adil Scheho flüchteten im Jahr 2015 vor der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) in die Türkei. «Zwei Wochen nach unserer Hochzeit ist Kobane vom IS angegriffen worden», erzählt der 38-jährige Scheho. Jetzt lebt die Familie in Sanliurfa, 40 Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt, und betrachtet die Türkei als zweite Heimat. «Unsere vier Kinder sind hier geboren, sie kennen Syrien nicht», sagt er.

Kilicdaroglus Pläne: Dafür steht der Erdogan-Herausforderer

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Syrische Geflüchtete sind nicht mehr willkommen

Aber Scheho ist beunruhigt: «Am Anfang wurden wir willkommen geheissen», aber das habe sich durch die Wirtschaftskrise geändert. «Selbst wenn sie uns nicht alle auf einmal nach Hause schicken, sie werden Druck auf uns ausüben, Papiere verlangen, die Mieten erhöhen», sagt er.

Dafür gibt es ein Vorbild. Der Bürgermeister von Bolu im Nordosten der Türkei strich den syrischen Flüchtlingen in seiner Gemeinde 2021 die Sozialhilfe, erhöhte ihre Wasserrechnungen um das Elffache und hob die Heiratssteuer an. Der CHP-Politiker wurde danach zwar von seiner eigenen Partei vorübergehend ausgeschlossen und mit einer Geldstrafe belegt, aber der Vorgang hat syrische Flüchtlinge eingeschüchtert.

Etwa 240'000 Menschen aus Syrien haben die türkische Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht erhalten, die meisten durch Investitionen oder als Studierende wie der angehende Ingenieur Hussein Utbah. Er wurde 2020 eingebürgert und darf als einziger seiner Familie am Sonntag wählen gehen.

Um die Zukunft seiner Mutter und Geschwister zu sichern, will er für Erdogan stimmen. «Meine Freunde und ich sind überzeugt, nicht nur weil wir Syrer sind, auch weil wir sehen, was er für das Land getan hat», sagt der 27-Jährige.

Utbah hat kein Vertrauen zur weltlichen Oppositionspartei CHP, wenn diese von einer «freiwilligen und würdigen Rückkehr» spricht. «Wir können nicht zurückgehen und (Machthaber) Baschar al-Assad vertrauen», betont er.

Syrer*innen sind billige Arbeitskräfte

Die Syrerin Sara Dogbeh, seit drei Monaten Witwe, hat einen gastronomischen Service in ihrem Viertel in Sanliurfa aufgebaut. «Wir haben schon (die Wahl von) 2018 durchgemacht. Aber dieses Mal haben wir noch mehr Angst. In jeder Rede spricht (die CHP) davon, uns nach Hause zu schicken», sagt sie. «Sie werden uns durch eine Nacht ohne Mond jagen. Selbst unsere türkischen Nachbarn haben Angst um uns.»

Der CHP-Vertreter in Sanliurfa, Halil Barut, versucht, die Flüchtlinge zu beruhigen. «Das Wichtigste ist ihre Sicherheit. Wir können sie nicht ins Feuer werfen, sie in einen Krieg zurückschicken», sagt er. «Aber mit ihrer Ankunft sind die Preise für Häuser gestiegen, die Mieten, und das hat uns geschadet.»

Dabei stehen die Syrer der türkischen Textilbranche, dem Bausektor, der Landwirtschaft und anderen Branchen als billige Arbeitskräfte zur Verfügung. So wie der 25-jährige Mohammed, der als Sicherheitswärter arbeitet. Er fragt sich, warum irgendjemand Leute wie ihn nach Syrien zurückschicken wolle. «Wir tun hier nichts Falsches», sagt der 25-Jährige. «Wir sind für die Türkei von Nutzen.»