Tag der Entscheidung in der Türkei Erdogan droht die Abwahl, aber würde er sie auch akzeptieren?

Von Philipp Dahm

13.5.2023

Türkei: Kurden könnten Wahl entscheiden – gegen Erdogan

Türkei: Kurden könnten Wahl entscheiden – gegen Erdogan

Kurden stellen ein Fünftel der Wahlberechtigten in der Türkei – sie könnten den Ausschlag geben bei der anstehenden Präsidentenwahl. Nach Jahren der Enttäuschung über Staatschef Recep Tayyip Erdogan wird wohl ein Grossteil von ihnen für seinen Her

12.05.2023

Seit über 20 Jahren hält sich Recep Tayyip Erdogan an der Macht – und könnte die türkische Demokratie weiter aushöhlen. Machen ihm die Jugend und die Kurden am Sonntag einen Strich durch die Rechnung?

Von Philipp Dahm

13.5.2023

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die Türkei wählt am Sonntag ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten.
  • Während sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan aussenpolitisch profilieren konnte, plagen ihn innenpolitisch Probleme.
  • Der inzwischen einzige Gegenkandidat Kemal Kilicdaroglu wird von einem Oppositionsbündnis aus sechs Parteien gestützt. Er hat die Jugend und die kurdische Bevölkerung hinter sich.
  • Die letzten Umfragen sehen Kilicdaroglu zwei Prozentpunkte vorn.
  • Wegen Erdogans aggressiver Aussenpolitik wird die Wahl auch international mit Interesse beobachtet.

Die Türkei liegt geografisch an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten. In dieser Lage kann sie international nicht nur eine grosse Rolle spielen, sie muss es sogar, wenn es nach Recep Tayyip Erdogan geht.

Die Aussen- und Sicherheitspolitik ist ein Steckenpferd des Mannes, der als Premier und Präsident seit 20 Jahren die Geschicke des Landes lenkt. Und er hat Erfolge vorzuweisen. Die Türkei spielt unter seiner Ägide eine wichtige Rolle in den Kriegen in Libyen und Syrien.

«Schicksalswahl»: Kemal Kilicdaroglu will Präsident Erdogan ablösen.
«Schicksalswahl»: Kemal Kilicdaroglu will Präsident Erdogan ablösen.
EPA

Die resultierende Flucht nutzt Erdogan, um sich gegenüber der EU als starker Staatsführer zu gerieren. Im Ukraine-Krieg gelingt es Erdogan, das Getreideabkommen zu vermitteln. Und auch im Krieg um Bergkarabach 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan greift Ankara entscheidend ein: Nicht zuletzt türkische Drohnen verhelfen Baku zum Sieg über Eriwan.

Das führt zu einem weiteren Trumpf, den Erdogan vorweisen kann: Es ist der Türkei gelungen, eine relativ autonome Rüstungsindustrie aufzubauen. Bei Drohnen spielt Ankara sogar in der Super League. Im April feiert das Land darüber hinaus den Jungfernflug des ersten selbst entwickelten Jets: Die TAI Hürjet ist ein Trainer und leichtes Kampfflugzeug.

Aufstieg der Rüstungsindustrie

Doch auch ein Jet der 5. Generation ist in Entwicklung: Der TAI TF-X Kaan soll zwischen 2026 und 2028 eingeführt werden. Die Armee ist im Vergleich noch unabhängiger vom Ausland: Kleinere Fahrzeuge wie die Otokar Cobra und Schützenpanzer wie der BMC Kirpi oder FNSS Pars verdrängen nicht nur westliche Produkte, sondern werden auch erfolgreich exportiert.

Aus eigener Produktion: Eine Patrouille der türkischen Armee im Otokar Cobra im Grenzgebiet zu Syrien.
Aus eigener Produktion: Eine Patrouille der türkischen Armee im Otokar Cobra im Grenzgebiet zu Syrien.
Archivbild: KEYSTONE

Ein eigener Panzer, der Altay, soll bereits in zwei Jahren zur Verfügung stehen. Gleichzeitig baut die Türkei derzeit Korvetten für die ukrainische Marine – und am 10. April feiert die Nation die Indienststellung des amphibischen Angriffsschiffs TCG Anadolu, das über 27'000 Tonnen verdrängt. 

Sein Konterfei neben dem des Staatsgründers Kemal Atatürk (links): Präsident Erdogan präsentiert am 23. April 2023 in Arifiye den neuen Panzer Altay aus heimischer Produktion.
Sein Konterfei neben dem des Staatsgründers Kemal Atatürk (links): Präsident Erdogan präsentiert am 23. April 2023 in Arifiye den neuen Panzer Altay aus heimischer Produktion.
IMAGO/APAimages

Das in Istanbul gebaute Schiff wird mit den heimischen Drohnen oder dem Angriffshelikopter T129 ATAK bestückt werden: Mit diesem Mittel kann Erdogan seine Ansprüche im Mittelmeer unterstreichen, wo die Türkei Ansprüche auf potenzielle Öl- und Gasfelder stellt. Entgegen geltenden Seerechts – aber der 69-Jährige lässt sich nichts vorschreiben, signalisiert er immer wieder.

Erdogans Neo-Osmanismus spaltet die Gesellschaft

Und genau das ist sein Problem. Nicht nur international, wo Erdogan die EU vor den Kopf stösst, den deutschen Comedian Jan Böhmermann verklagt, die USA mit dem Kauf des russischen Flugabwehrsystems S-400 verärgert oder sich gegen die Nato stellt, in dem er das Mitglied Griechenland bedroht oder den Beitritt Schwedens blockiert, nur um zu Hause gut dazustehen.

Er eckt bei Alliierten an: Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht am 30. Juni 2022 beim Nato-Gipfel in Madrid.
Er eckt bei Alliierten an: Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht am 30. Juni 2022 beim Nato-Gipfel in Madrid.
Keystone

Auch innenpolitisch hat der Präsident viel Porzellan zerschlagen. Das liegt an seiner Politik des Neo-Osmanismus – einer kruden Mischung aus Nationalismus und Islamismus. Erdogan will die Türkei wieder zur Grossmacht machen, während er die kemalistische Trennung von Staat und Kirche konsequent aufweicht, ohne sich offiziell von Staatsgründer Kemal Atatürk zu distanzieren, der das Prinzip eingeführt hat.

Das führt zu Spannungen in der Gesellschaft, wie der oben stehende, aktuelle Clip zeigt: Frauen greifen in Ankara eine Passantin an, nur weil sie ein Kopftuch trägt. Ein Nationalist bepöbelt eine Journalistin in Istanbul, weil sie auf Arabisch berichtet, anstatt Türkisch zu sprechen. In Gaziantep gehen Mitglieder der Jugendparteien der Präsidentschaftskandidaten aufeinander los und in Amsterdam türkische Wähler, die dort direkt abstimmen können.

Innenpolitische Fehler

Während die ersten Jahre von Erdogans Amtszeit noch von ökonomischem Aufschwung und einem gewissen Mass an Kooperationsbereitschaft geprägt ist, wandelt der Präsident spätestens sei dem Putschversuch 2016 auf eigenen Wegen – und bringt dann auch noch die Wirtschaft in höchste Nöte.

Während der Pandemie glaubt Erdogan trotz diverser Warnungen, er könne die Inflation bremsen, indem er die Zinsen künstlich niedrig hält. Doch das resultiert nicht in steigendem Konsum und einer Erholung, sondern im freien Fall der Lira, die enorm an Wert verliert – und mit ihr die Kaufkraft des Volkes.

Doch Erdogan scheint mehr damit beschäftigt zu sein, Verschwörer zu jagen, Journalisten einzusperren und Beleidigungen auf Twitter zu verfolgen. Das katastrophale Erdbeben im Februar fördert zutage, dass staatliche Notfall-Fonds verbraucht und Bau-Bestimmungen gelockert worden sind, was entsprechenden Firmen höhere Gewinne beschert hat.

Würde Erdogan eine Wahlniederlage akzeptieren?

Die Opposition hat sich zusammengeschlossen: Sechs Parteien unterstützen bei der von ihnen ausgerufenen «Schicksalswahl» den liberaleren Kandidaten Kemal Kilicdaroglu, der bei Umfragen zwei Prozentpunkte vor Erdogan liegt und auch von der prokurdischen HDP unterstützt wird. Kurden machen rund 20 Prozent der Bevölkerung aus.

Ob Erdogan eine Wahlniederlage akzeptieren würde, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Innenminister Süleyman Soylu spricht sogar von einem möglichen Putsch am Wahltag, berichtet die Nachrichtenagentur «DPA». Der ultranationalistische Verbündete Devlet Bahceli droht der Opposition unverhohlen mit «entweder lebenslangen Haftstrafen oder Kugeln in ihre Körper».

Kilicdaroglus Pläne: Dafür steht der Erdogan-Herausforderer

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Kemal Kilicdaroglu, der gemeinsame Kandidat der türkischen Opposition, hat gute Chancen, neuer türkischer Präsident zu werden. Bei einem Wahlsieg will er die Türkei tiefgreifend reformieren. AFPTV erklärt, was der 74-Jährige vor hat.

12.05.2023

Neben dem Präsidenten werden am 14. Mai auch die Parlamentarier für eine neue Amtszeit gewählt. Eine etwaige Stichwahl würde zwei Wochen später stattfinden. Sollte Kilicdaroglu Erdogan schlagen, ist zwar nicht mit einem kompletten Kurswechsel zu rechnen, doch der Ton in der Aussenpolitik dürfte umgänglicher werden, glauben Beobachter.

Das Durchschnittsalter der Türkei beträgt 2020 32,7 Jahre: Vielleicht spült den Kandidaten trotz seines Alters die Jugend ins Amt, die mitunter keinen Politiker ausser Erdogan an der Spitze kennt. Kilicdaroglu würde aber sicherlich auch nur eine Übergangslösung darstellen: Der schiitische Alevit der Republikanischen Volkspartei CHP ist immerhin 74 Jahre alt. 

Türkei: Jungwähler auf Gegenkurs zu Erdogan

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Rund fünf Millionen Erstwähler können bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag in der Türkei ihre Stimme abgeben. Laut Umfragen wollen nur rund 20 Prozent von ihnen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan wählen.

12.05.2023