Kabul erlebt einen Tag wie auf einer Achterbahn. Am Morgen verfallen alle in Panik – die Taliban, heisst es, greifen an. Am frühen Abend könnte man dann eine Stecknadel fallen hören. Die Anspannung ist gross.
Von Veronika Eschbacher, dpa
16.08.2021, 00:00
dpa/toko
Niksad Salahuddin kommt schweissgebadet nach Hause und reisst panisch alle Schubladen seines Schreibtischs auf. Eben war er zwei Stunden lang in der prallen Sonne die staubige Strasse von seinem Büro im Zentrum bis zu seinem Haus weit im Norden der afghanischen Hauptstadt Kabul zu Fuss gelaufen. «Wo ist die Schere?», habe er seine Frau gefragt. Und dann habe er begonnen, seine schwarze Dokumentenmappe auszuräumen, erzählt der 35-Jährige am Telefon. «Ich habe eine Heidenangst», sagt er und muss Luft holen. «Alle sagen, die Taliban sind schon in der Stadt.»
Eingeschweisste Dienstausweise, Empfehlungsschreiben und Visadokumente habe er begonnen, in kleine Stücke zu zerschneiden. Manche von ihnen waren von US-Streitkräften und vom afghanischen Innenministerium ausgestellt worden. Dokumente, so glaubt er, die ihm den Kopf kosten könnten, wenn die Taliban sie fänden. «Ich muss alles zerstören», murmelt er, bevor er auflegt.
Am frühen Sonntagmorgen hatten die Taliban mit Dschalalabad im Osten die vorletzte Grossstadt im Land übernommen. Keine zwei Stunden später stand die Hauptstadt Kabul plötzlich Kopf. «Keiner wusste, woher die Nachricht kam, aber plötzlich hiess es, die Taliban sind schon in Dascht-e Bartschi im Westen der Stadt», sagt Humajun Sabs, ein Bewohner von Kart-e Tschar, dem liberalen Viertel der Stadt. Dann habe jegliche Vernunft bei den Menschen ausgesetzt.
Menschen strömen zu den Banken
Hunderte strömten zu Banken und versuchten, ihre Ersparnisse abzuheben. Es gab Prügeleien und Schiessereien um die Reihenfolge in der Schlange. Andere begannen, mit den Fingernägeln Konterfeis von Ahmad Schah Massud, dem legendären verstorbenen Kämpfer gegen die Taliban aus dem Pandschir-Tal von ihren Autoscheiben zu kratzen. Wieder andernorts wurden rasch Maler herbeigerufen, um all zu freizügige Reklamebilder an Geschäften, die Frauen zeigten, rasch zu übermalen. Auch Musiker liessen ihre Banner entfernen.
Kaum fielen irgendwo Schüsse – und es ist keine Seltenheit, dass in Kabul jemand völlig grundlos in die Luft feuert – begannen die Menschen, in alle Richtungen zu rennen. Manche rannten offenbar auch nur vor Männern mit schwarzem Turban davon. Diese werden gerne von Taliban getragen. Die Helikopter, die alle paar Minuten extrem knapp über die Dächer im Zentrum der Stadt donnerten, wohl Ausländer ausflogen und dabei die Glasscheiben zum Vibrieren brachten, trugen nicht zur Beruhigung bei.
Auf den Strassen der Stadt sei irgendwann nichts mehr gegangen, erzählt Sabs. Auf ihnen mischten sich neu angekommene Flüchtlinge aus den Bezirken rund um Kabul, Menschen, die alle nach Hause eilten, und Konvois von Sicherheitskräften, die sich aus anderen Provinzen im Umkreis der Stadt zurückgezogen hatten. «Alle sind in alle Richtungen gefahren, über Gehwege und egal welche andere Hindernisse, um nach Hause zu kommen.»
Brutaler Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001
Die Panik von Salahuddin und Millionen anderen Menschen in Kabul, die von der Erinnerung an die früheren Jahre brutaler Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001 rührt, erwies sich schliesslich vorerst als unbegründet. Die Islamisten befahlen ihren Kämpfern, nicht in die Stadt vorzudringen, sondern am Stadtrand Stellung zu beziehen.
Auch die afghanischen Innen- und Verteidigungsminister verbreiteten schliesslich Videos, in denen sie erklärten, es werde einen friedlichen Machtwechsel geben. Sie riefen die Menschen auf, keiner Propaganda anheim zu fallen. Damit wollten sie wohl Plünderungen verhindern.
Am Nachmittag eine Geisterstadt
Nur wenige Stunden später glich Kabul am Nachmittag plötzlich einer Geisterstadt. «Nicht ein Mensch ist auf der Strasse», sagte Farsad Husseini, der im Zentrum der Stadt lebt. Alle Geschäfte seien geschlossen, alle Märkte, es stehe nicht ein Gemüsehändler mit seinem Holzkarren am Strassenrand. Alle hätten sich mit grossen Sorgen zuhause verbarrikadiert und würden abwarten, was nun passiere. Bis dahin hatte es weder von den Taliban, noch von der Regierung eine klare Ansage gegeben.
Die Zeit nutzten viele Bürger, um ihre Wut über die Geschehnisse der vergangenen Wochen in sozialen Medien kundzutun. Sie schimpften auf die Sicherheitskräfte, die kaum wo im Land den Taliban Widerstand geleistet hatten. Sie schimpften auf die Taliban, dass sie diese Offensive überhaupt begonnen hatten. Sie schimpften auf die Amerikaner, die sie im Stich gelassen hatten. Und sie schimpften auf den Präsidenten Aschraf Ghani, der an dem gesamten Schlamassel schuld sei.
Es war früher Abend, als Salahuddin sich erstmals zurücklehnen konnte. «Jetzt geht es mir ein bisschen besser», sagt er, wieder am Telefon. Die Dokumente, die ihn am meisten belasten würden, seien vernichtet. «Meine Frau hat alles verbrannt, und wir haben die Asche weggebracht.»