Nach Urteil in Deutschland Werden Behinderte in der Schweiz ausreichend vor einer Triage geschützt?

twei

29.12.2021

Gesetzgeber muss Behinderte bei Corona-Triage schützen

Gesetzgeber muss Behinderte bei Corona-Triage schützen

Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen. Das hat das deutsche Bundesverfassungsgericht beschlossen.

28.12.2021

Menschen mit Behinderung sind in Deutschland im Falle einer Triage künftig vor Diskriminierung geschützt. In der Schweiz gibt es hingegen noch Handlungsbedarf, wie der Dachverband der Behindertenorganisationen, «Inclusion Handicap», moniert.

twei

29.12.2021

Es könnte ein Urteil mit Signalwirkung sein: Am Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht in Deutschland Massnahmen zum Schutz von Menschen mit Behinderung beschlossen.

Im Falle einer Triage in den Spitälern als Folge der angespannten Corona-Lage dürfen Behinderte bei der intensivmedizinischen Versorgung nicht benachteiligt oder diskriminiert werden. Das Bundesverfassungsgericht forderte den Bundestag auf, «unverzüglich» Vorkehrungen zum Schutz von Behinderten in die Wege zu leiten.



Der Entscheid könne auch in der Schweiz Auswirkungen auf den Gesetzgebungsprozess haben, hofft Caroline Hess-Klein, stellvertretende Geschäftsführerin von «Inclusion Handicap», dem Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen.

Bis dato habe sich der Gesetzgeber in Deutschland nicht dafür eingesetzt, die besondere Gefährdung von Behinderten abzuwenden. «Die Situation ist letztlich eins zu eins auf die Schweiz übertragbar», sagte sie im Interview mit «SRF».

Verbandspräsidentin übt Kritik am Bundesrat

Zwar sei der Schutz von Menschen mit Behinderung in der Schweizer Verfassung verbrieft, aber die Regelungen seien sehr allgemein gehalten, bemängelte Hess-Klein: «Was das konkret bei Triage-Entscheidungen heisst, hat der Gesetzgeber bis heute nicht konkretisiert.»

Bedeutend sei zudem die UNO-Behindertenrechtskonvention, die «in Ausnahmesituationen wie einer Pandemie behinderte Menschen besonders vor Gefährdungen ihres Lebens und vor Diskriminierungen» schütze, so Hess-Klein.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht veröffentlichte am Dienstag eine Entscheidung zur sogenannten Triage in der Corona-Pandemie. (Symbolbild)
Das deutsche Bundesverfassungsgericht veröffentlichte am Dienstag eine Entscheidung zur sogenannten Triage in der Corona-Pandemie. (Symbolbild)
Bild: Fabian Strauch/dpa

Die Richtlinien zur Triage von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW würden zwar in der Praxis zum Einsatz kommen, hätten aber ein wesentliches Problem – sie seien «nicht verbindlich». Weiter kritisierte Hess-Klein: «Diese Richtlinien ersetzen keineswegs eine verbindliche rechtliche Grundlage.»

Zürcher Ärztin regt «Mehraugenprinzip» an

Auch Tanja Krones, Ärztin am Universitätsspital Zürich, begrüsste das Urteil im Nachbarland Deutschland. «Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht sagt, dass der Gesetzgeber mit in der Verantwortung ist, sich um Schutzpflichten zu bemühen und sich auch inhaltlich mit den Fragestellungen auseinanderzusetzen.» Nun müsse auch der Schweizer Gesetzgeber nachziehen.



Krones erwartet nicht nur «inhaltliche Kriterien», sondern regte auch die Einführung bestimmter Verfahren, etwa des «Mehraugenprinzips», an. Nur auf medizinischer Ebene Überlegungen anzustrengen, sei aber zu kurz gedacht, merkte Krones an. «Wer übernimmt die Verantwortung zu sagen, dass man in einer Knappheitssituation ist?», fragte sie. Möglicherweise auftretende Todesfälle infolge einer Triage seien nicht mittels einer Richtlinie zu regeln, «da ist der Gesetzgeber in der Verantwortung», zeigte sich Krones überzeugt.

Deutsches Gericht gibt Verfassungsbeschwerde recht

Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten in Deutschland Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchteten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Das höchste deutsche Gericht gab ihnen nun Recht. Niemand dürfe wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt werden.

Die Kläger befürchteten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen bei einer möglichen Triage das Nachsehen zu haben. Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), an denen sich Ärzt*innen bisher orientierten, rechtlich nicht verbindlich und «kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht» seien. Es müsse sichergestellt sein, «dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird».

Mit Material der SDA