Ethikerin über den Ernstfall «Eine Triage ist eine ganz, ganz schwierige Aufgabe»

Von Gil Bieler

2.12.2021

Ärzte und Pflegende kümmern sich um Covid-Patienten im Zürcher Triemli-Spital (Archivbild).
Ärzte und Pflegende kümmern sich um Covid-Patienten im Zürcher Triemli-Spital (Archivbild).
BIld: Keystone/Gaetan Bally

Für wen hat es noch ein Intensivbett, für wen nicht? Das Spitalpersonal muss wohl bald wieder harte Entscheidungen treffen. Eine Ethikerin erklärt die Tücken der Triage und wieso der Impfentscheid keine Rolle spielen darf.

Von Gil Bieler

2.12.2021

Wegen der sich zuspitzenden Situation in den Spitälern erwarten erste Mediziner, dass schon bald wieder eine Triage vorgenommen werden muss. Sprich: Es dürften mehr Menschen einen Platz auf der Intensivstation benötigen, als es freie Betten gibt. Wer berücksichtigt werden kann und wer nicht, dieser Entscheid liegt dann beim Spitalpersonal. 

Für dieses Triage-Verfahren hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Richtlinien erarbeitet. Ehtikerin Sibylle Ackermann erklärt im Interview, wie man sich das vorstellen muss. 

Ungeimpfte sollen kein Intensivbett erhalten – so äussern sich derzeit viele auf den sozialen Medien. Wie sehen Sie diesen Aufruf?

Zur Person

Sibylle Ackermann ist Ethikerin und Leiterin des Ressorts Ethik bei der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Ich sehe das dezidiert anders. Selbstverständlich empfehlen wir allen, sich impfen zu lassen, das ist ein zentrales Mittel, um die Spitäler vor Überlastung zu schützen. Aber für die SAMW ist es essenziell, dass rein nach medizinischen Kriterien entschieden wird, wer bei Ressourcenknappheit einen Platz auf der Intensivstation erhält und wer nicht. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen des Gesundheitssystems müssen so eingesetzt werden, dass eine ausreichende Versorgung aller kritisch kranken Personen gewährleistet ist, unabhängig davon, ob sie an Covid-19 oder anderen Krankheiten leiden und welchen Impfstatus sie haben.

Aber Leute, die sich bewusst nicht gegen Covid impfen lassen, sind sich doch des damit verbundenen Risikos bewusst.

Sehen Sie: Es gibt so viele andere Menschen, die Risiken eingehen. Raucher etwa oder Extremsportlerinnen. Oder Eltern, die ihr Kind auf dem Spielplatz nicht nur auf dem Klettergerüst, sondern auf einen Baum klettern lassen – all das beinhaltet ein Risiko, und es wäre grauenhaft, wenn ich in der Notaufnahme gefragt würde: «Von wo genau ist Ihr Kind denn runtergefallen? Ah, von einem Baum …» Es darf nicht sein, dass anhand solcher Fragen entschieden wird.

Wobei die Triage erst wegen der Covid-Pandemie nötig wird, nicht wegen von Bäumen fallender Kinder. Spielt das ethisch betrachtet keine Rolle?

Nein. Es müssen alle Patientinnen und Patienten, die einen Bedarf an einer medizinischen Behandlung haben und diese auch sinnvoll ist, nach den gleichen Kriterien behandelt werden. Dieser Grundsatz gilt immer. Unsere Gesellschaft gewichtet Selbstbestimmung und Eigenverantwortung als hohe Werte und das gilt auch für die Impfung.

Was wäre denn mit einer anderen oft gehörten Forderung: dass Ungeimpfte weiter hinten in der Warteliste platziert werden sollten?

Nochmals: Die Triage-Kriterien basieren auf rein medizinischen Kriterien, und die Weltanschauung ist keines. Gleichzeitig ist es so: Wer nicht geimpft ist, hat das höhere Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs. Kommen andere Risikofaktoren hinzu, kann die Prognose für diese Person sehr schlecht werden. Und entsprechend schlechtere Chancen hat diese Person, wenn es zu einer Triage-Situation kommt – auch, weil sie nicht geimpft ist. Aber der Impfstatus per se ist nicht das ausschlaggebende Kriterium.

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Welches sind denn die wichtigsten Triage-Kriterien, nach denen entschieden wird, wer einen Platz auf der Intensivstation erhält?

Zuerst ist klarzustellen, dass Triage immer das letzte Mittel sein muss. Ist sie unausweichlich, geht es immer um die Frage, wer eine Intensivbehandlung überhaupt braucht – und wer durch diese die besten kurzfristigen Überlebenschancen hat. In der Pandemie muss man einerseits bei allen Patientinnen und Patienten, die normalerweise auf die Intensivstation kämen, überlegen: Gibt es auch solche, die man auf einer normalen Station mit zusätzlichem Aufwand betreuen kann? Die kommen dann nicht auf die IPS.

Andererseits gibt es Personen, bei denen man davon ausgehen muss: Auch mit voller Intensivbetreuung haben sie nur schlechte Überlebenschancen. Diese Schwerstkranken können in der Triage ebenfalls nicht berücksichtigt werden und werden dann palliativ betreut. Das kann der Fall sein, wenn jemand sehr schwach und gebrechlich ist oder bereits an einer oder mehreren schweren Krankheiten leidet.

Bedeutet das, dass jüngere Patienten eher berücksichtigt werden als ältere?

Das Alter per se spielt keine Rolle, sondern man muss immer im Einzelfall entscheiden. Ein 80-Jähriger, der regelmässig auf einen Berggipfel wandert, kann fitter sein und eine intensivmedizinische Behandlung mit besseren Chancen überleben als ein bereits schwer kranker 50-Jähriger. Aber natürlich, im Durchschnitt haben Menschen im hohen Alter die höhere Fragilität und oft mehr Erkrankungen als jüngere.

Die Triage-Richtlinien wurden seit Beginn der Pandemie mehrere Male überarbeitet, weil sich die Gegebenheiten verändert haben. Wird das jetzt erneut nötig?

Die Richtlinien wurden von der SAMW in Zusammenarbeit mit der Fachgesellschaft für Intensivmedizin erarbeitet und werden bei Bedarf angepasst. Wir sind mittlerweile bei Version 4, die aus dem September datiert. Sie ist also noch relativ frisch und berücksichtigt zum Beispiel, dass das Durchschnittsalter der Covid-Patienten auf Intensivstationen deutlich tiefer ist als noch im Herbst 2020. Sollte es nötig werden, werden wir die Richtlinien wieder anpassen. Momentan zeichnet sich das nicht ab. Wobei auch wir nicht wissen können, wie die Situation in zwei Monaten aussehen wird und was die Omikron-Variante bringt.

Die Richtlinien bieten Orientierung, doch den Triage-Entscheid stelle ich mir trotzdem als grosse Belastung für das Spitalpersonal vor.

Das ist enorm belastend, ja. Eine Triage vorzunehmen, ist eine ganz, ganz schwierige Aufgabe. Darum heisst es in unseren Richtlinien auch, dass eine Triage immer das letzte Mittel sein muss. Zuerst müssen planbare Operationen verschoben werden und Patientinnen und Patienten müssen auf Spitäler in anderen Regionen verlegt werden, wenn diese noch freie Kapazitäten haben. Wir geben mit unseren Richtlinien Orientierungshilfe. Die Verantwortung, wer bei einer Triage berücksichtigt werden kann und wer nicht, liegt aber immer bei der behandelnden Arztperson und ihrem Team vor Ort. Grundsätzlich sind sich Ärztinnen und Ärzte das auch gewohnt, wenn etwa gleichzeitig viele Unfallopfer in der Notaufnahme eintreffen. Es bleibt aber trotzdem sehr belastend.



Belastend ist es aber auch für Krebspatientinnen, die nun auf ihre Operation warten müssen, weil die Intensivstationen voll sind.

Auch hier geht es um die Überlebenschancen. Es gibt Operationen, die haben bei einer Verschiebung um ein paar Wochen keinen grossen Einfluss auf die Überlebenschancen, sagen wir: ein Eingriff am Hüftgelenk. Damit kann man im Falle der Ressourcenknappheit zuwarten. Aber es gibt andere Fälle, in denen Aufschieben ein Problem darstellt – etwa im Bereich Onkologie oder in der Kardiologie. Und auch hier ist es wichtig, dass diese Fälle aufgrund der Triage-Kriterien bewertet und berücksichtigt werden. Wer Intensivpflege nötig hat, soll diese auch bekommen. Das gilt ja nicht nur für Covid-Patientinnen und -Patienten.