Zynischer Riot-Song Trump wirbt mit Gefangenenchor um Stimmen

AP/tpfi

23.4.2023

Während im Hintergrund Aufnahmen vom Aufstand im US-Kapitol am 6. Januar 2021 zu sehen sind, steht der ehemalige Präsident Donald Trump während einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Regionalflughafen von Waco (Texas) und spielt das Lied «Justice for All».
Während im Hintergrund Aufnahmen vom Aufstand im US-Kapitol am 6. Januar 2021 zu sehen sind, steht der ehemalige Präsident Donald Trump während einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Regionalflughafen von Waco (Texas) und spielt das Lied «Justice for All».
Bild vom 25. März 2023: Evan Vucci/AP

Im Kampf um Stimmen ist Donald Trump nicht zimperlich. Gerade versuchen er und ein Chor aus Häftlingen, mit einem Zusammenschnitt aus Nationalhymne und Treue-Schwur den Sturm aufs Kapitol in patriotisches Licht zu rücken. Einer der Verurteilten gab vor Gericht den Reuigen.

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Die Komposition ist äusserst schlicht, der Klang blechern. «Justice for All» ist ein Zusammenschnitt aus der US-Hymne und von Donald Trump zitierten Worten aus dem Treue-Gelöbnis an die Vereinigten Staaten. Das Lied klingt eher wie ein Grabgesang denn ein patriotischer Weckruf. Aber genau das soll der Song offenbar sein, den der Ex-Präsident zusammen mit einem Gefangenenchor aufgenommen hat: und zwar mit Häftlingen die wegen ihrer Verwicklung in den Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.

Trotz aller klanglichen Einbussen – der Part des Gefangenenchors «J6 Prison Choir» wurde per Telefon eingespielt – hat das Lied eine erkleckliche Anhängerschaft gewonnen, obwohl es so gar nichts vom Gefangenenchor aus Beethovens Freiheitsoper «Fidelio» hat. Trump selbst geht damit hausieren. Kürzlich spielte er es bei einer Kundgebung in Waco in Texas. Und im vergangenen Monat erreichte die Aufnahme kurzzeitig sogar Platz 1 bei iTunes.

Wirksame Propaganda

Für Extremismus- und Propagandaexperten ist die Präsentation ein weiteres Beispiel dafür, wie Trump und seine überzeugtesten Anhängerschaft versuchen, das Geschehen vom 6. Januar 2021 reinzuwaschen und es vielmehr als Akt des patriotischen Widerstands darzustellen. An diesem Tag sollte im Kongress der Wahlsieg des neuen Präsidenten Joe Biden bestätigt werden. Ausser Kontrolle geratene Anhänger des abgewählten Vorgängers Trump stürmten das Parlamentsgebäude, verwüsteten es, trieben Abgeordnete in die Enge. Fünf Menschen verloren ihr Leben, Dutzende wurden verletzt. Zuvor hatte Trump zum Protest und Widerstand gegen seinen angeblich gestohlenen Wahlsieg aufgerufen.

«Es überrascht irgendwie nicht, dass diese Propaganda wirksam ist», sagt Federico Finchelstein von der New School for Social Research in New York, ein Fachmann auf dem Gebiet autoritäre Desinformation. «Aber es ist schockierend, dies in diesem Land zu sehen.» Es werde praktisch gefordert, dass die Realität der Loyalität zu einem Anführer weichen müsse. «Und dieser Anführer ist in dem Fall Donald Trump.»

Entsetzen bei betroffenen Sicherheitskräften

Bei den Sicherheitskräften, die beim Sturm aufs Kapitol versuchten, die Randalierer im Zaum zu halten, macht sich Entsetzen breit. Sie sprechen von einem zynischen Versuch, die Amerikanerinnen und Amerikaner über die wahren Geschehnisse in die Irre zu führen. Umfragen zufolge sind die US-Bürger ideologisch gespalten, was die Ereignisse von damals angeht. So erklärten in einer Erhebung von Associated Press-NORC Center for Public Affairs Research im vergangenen Jahr etwa die Hälfte der Befragten, Trumps Beteiligung rechtfertige eine Strafverfolgung. In einer weiteren Umfrage waren auf der anderen Seite nur 40 Prozent der Republikaner der Ansicht, dass der Angriff sehr oder extrem gewaltsam gewesen sei.

Inzwischen brüsten sich selbst an der Randale beteiligte, die sich vor Gericht unter Tränen entschuldigt hatten, mit ihrer Teilnahme an den Unruhen – oder versuchen, finanziell davon zu profitieren. T-Shirts und Gegenstände mit der Aufschrift «Free the Jan. 6 Protesters» (Freiheit für die Protestierenden vom 6. Januar) werden zum Verkauf angeboten und wecken den Anschein, dass es sich bei den Randalierern um prinzipientreue Demonstrantinnen und Demonstranten handelte.

Lukrativer iTunes-Hit

Viele beteiligte Gruppen erklären, dass sie versuchen, Geld für die Angeklagten und ihre Familien zu sammeln. Auch bei «Justice for All» ist das der Fall. Wohin Einnahmen aus dem Lied tatsächlich fliessen, ist aber kaum in Erfahrung zu bringen. Neben der Möglichkeit, das Lied für 1,29 Dollar bei iTunes herunterzuladen, gibt es altmodische Schallplatten in verschiedenen Farben. Die Preisspanne liegt zwischen 99,99 Dollar (rund 89 Franken) und 199,99 Dollar.

Die 20 Insassen, die im Chor der J6-Gefangenen singen, sind nur ein Bruchteil von rund 1000 Personen, die im Zusammenhang mit dem Sturm aufs Kapitol nach Bundesrecht angeklagt wurden. Gegen mehr als 450 wurden Strafen verhängt, mehr als die Hälfte von ihnen wurde zu Haft zwischen sieben Tagen und zehn Jahren verurteilt.

Reuiger Randalierer trällert mit

Von den Chormitgliedern ist nur eines identifiziert: Timothy Hale-Cusanelli, der für seine Beteiligung an den Unruhen vom 6. Januar eine vierjährige Haftstrafe verbüsst. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 33-Jährigen vor, andere Randalierer zum «Vormarsch» aufgefordert zu haben. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie er Sicherheitskräfte mit Schimpfwörtern überzieht.

Im Zeugenstand sagte Hale-Cusanelli aus, er habe nicht gewusst, dass der Kongress im Kapitol tagte oder dass er an diesem Tag tagte, um den Sieg Bidens über Trump zu bestätigen. «Ich weiss, das klingt idiotisch, aber ich komme aus New Jersey», erklärte er. In seiner schulischen Laufbahn habe er nicht mitbekommen, dass es ein Gebäude namens Kapitol gebe. Das Gericht stufte diese Aussage als «höchst zweifelhaft» ein.

Bei seiner Verurteilung im September drückte Hale-Cusanelli sein Bedauern über seine Rolle bei den Unruhen aus. «Mein Verhalten an diesem Tag war inakzeptabel, ich habe Schande über meine Uniform und über das Land gebracht», erklärte er. Wenn es irgendetwas gebe, mit dem er den Schaden wiedergutmachen könne, sei er bereit, sagte er dem Gericht.