Lira im Sinkflug Warum Erdogan seine Experten ignoriert

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5.12.2021 - 00:00

Der türkische Präsident Erdogan bleibt stur und ignoriert in der Finanzpolitik seine Experten
Der türkische Präsident Erdogan bleibt stur und ignoriert in der Finanzpolitik seine Experten
Turkish Presidency/AP/dpa (Archivbild)

Die Inflation in der Türkei erreicht Rekordwerte, Erdogan ignoriert die Empfehlungen der meisten Experten. Welche Ziele verfolgt der Präsident? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

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Die türkische Lira verliert gegenüber dem Dollar und dem Euro immer weiter an Wert. Doch Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt stur. Anstatt den Leitzins zu erhöhen, will er ihn noch weiter senken. Für viele Familien erweist sich dies als verheerend. Mit dem Geld, das ihnen zur Verfügung steht, können sie sich 40 Prozent weniger kaufen als noch zu Beginn des Jahres. Und Wissenschaftler warnen vor noch weiter reichenden Konsequenzen für die Wirtschaft des Landes.



Wo liegt das Problem?

Die türkische Zentralbank hat die Kreditkosten seit September um vier Prozentpunkte gesenkt, obwohl die Inflation bereits bei etwa 20 Prozent liegt. Die Institution folgte damit dem Willen des Präsidenten, der nach 19 Jahren an der Macht zunehmend autoritäre Züge entwickelt. Erdogan vertritt die Meinung, dass zu hohe Zinsraten der Grund für die Geldentwertung seien. Die meisten Wirtschaftsexperten widersprechen – allgemein gilt vielmehr eine Erhöhung der Raten als Mittel zur Senkung der Preise.

Die jüngsten Zinssenkungen haben derweil auch die Sorgen bezüglich der Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank verstärkt. Viele internationale Investoren ziehen sich bereits aus dem Land zurück. In der Bevölkerung steigt die Tendenz, Ersparnisse in ausländische Währungen zu tauschen oder in Gold anzulegen, um sie vor der ausufernden Inflation zu retten. Die Leute «holen das Geld unter ihren Matratzen hervor», um Dollar zu kaufen, sagt Hulya Orak, die in einer Wechselstube arbeitet. Sie seien «ständig im Panikmodus».

All dies hat dazu beigetragen, dass die Talfahrt der Lira, die sich gerade erst von einer Krise im Jahr 2018 halbwegs erholt hatte, kaum noch zu bremsen scheint. Nachdem Erdogan am 23. November seine Haltung bekräftigt hatte, sank der Kurs gegenüber dem Dollar auf ein Rekordtief von 13,44. Am Dienstag mussten kurzzeitig sogar mehr als 14 Lira für einen Dollar aufgebracht werden.

Wie wirkt sich die Krise auf den Alltag der Bevölkerung aus?

Die Inflation vermindert die Kaufkraft der Türken erheblich. Und die tatsächliche Inflationsrate ist womöglich weit höher als offiziell angegeben: Während die Regierung am Freitag von 21 Prozent sprach, kam die unabhängige Inflation Research Group auf einen Wert von 58 Prozent. Politiker der Opposition stellen die Zahlen des türkischen Statistikinstituts schon seit längerer Zeit infrage.

Importwaren sind in der Türkei deutlich teurer geworden – die Menschen bekommen dies an den Tankstellen ebenso wie in den Supermärkten zu spüren. In vielen Fällen sind auch die Mieten in die Höhe geschnellt. Die Preise für den Erwerb von Immobilien, die oft an den Dollar gekoppelt sind, steigen ebenfalls.

Vor kleinen Kiosken, in denen das Brot einen Lira günstiger ist als in Bäckereien und anderen Geschäften, bilden sich jeden Morgen lange Schlangen. «Wir machen überall Einschnitte», sagt Sinasi Yukselen, während er in einer Schlange wartet. «Sonst habe ich immer zehn Brote gekauft, jetzt kaufe ich fünf. Fleisch zu kaufen, haben wir längst aufgegeben.» In einem Kaufhaus in der Hauptstadt Ankara sagt Emine Cengizer, dass sie gerne eine Winterjacke für ihre Tochter kaufen würde. Aber «wenn ich die Jacke kaufe, werden wir den Rest der Woche nichts zu essen haben».

Selva Demiralp, Wirtschaftsprofessorin an der Koc-Universität in Istanbul, befürchtet wegen der aktuellen Krise auch einen «Brain Drain», also eine massive Abwanderung von hoch qualifizierten Arbeitskräften. «Wenn der Unterschied zwischen dem, was man in der Türkei verdienen kann und dem, was man im Ausland verdienen kann, so gross wird, dürfte es sehr schwierig werden, die gut ausgebildeten Angestellten in der Heimat zu halten», sagt sie. «Und das ist eine grosse Gefahr für die Zukunft des Landes.»

Welche Ziele verfolgt Erdogan?

Der türkische Präsident drängt auf niedrige Zinsen, um die Wirtschaft anzukurbeln, die Exporte zu erhöhen und Jobs zu schaffen. Er will damit laut eigenen Angaben auch die Abhängigkeit seines Landes von kurzfristigen Krediten mit hohen Zinsen senken. Drei Zentralbankchefs, die sich im Einklang mit den allgemeinen Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften seinen Vorstellungen widersetzen wollten, hat Erdogan bereits entlassen. Am Dienstag ernannte er zudem einen neuen Finanzminister, der als Unterstützer seiner Niedrigzinspolitik gilt.

Schuld an der aktuellen Währungskrise sind nach Darstellung des Präsidenten ausländische Kräfte, die darauf aus seien, die türkische Wirtschaft zu schwächen. Seine Regierung befinde sich in einem «wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg», sagt er. Doch aus Sicht der Expertin Demiralp geht die Strategie Erdogans nicht auf. «Die Zentralbank behauptet, mit Zinssenkungen den Inflationsdruck eindämmen zu können. Aber die Märkte nehmen ihr diese Geschichte nicht ab», sagt sie. Auch das erhoffte Wirtschaftswachstum werde angesichts der Ungewissheit und der explodierenden Kosten in der aktuellen Krise voraussichtlich ausbleiben.

Was steht für Erdogan politisch auf dem Spiel?

In seinen ersten Jahren an der Macht profitierte Erdogan von einer starken Wirtschaft – die positive Stimmung in der Türkei verhalf ihm zu mehreren Wahlsiegen. Zuletzt hat er wegen der gestiegenen Verbraucherpreise dagegen an Popularität eingebüsst. Meinungsumfragen zeigen, dass auch unter seinen Anhängern die Unzufriedenheit mit seiner Finanzpolitik zunimmt. Vergangene Woche gab es in Istanbul und mehreren anderen türkischen Städten wegen der gestiegenen Lebenshaltungskosten kleinere Demonstrationen. Dutzende Menschen wurden festgenommen.

Eine Allianz von Oppositionsparteien gewinnt laut Umfragen deutlich an Zulauf. Mitglieder der Allianz werfen Erdogan wegen seiner umstrittenen Wirtschaftspolitik «Landesverrat» vor und fordern vorgezogene Wahlen. Erdogan weist die Forderung zurück und beharrt darauf, dass wie geplant erst im Jahr 2023 gewählt wird. Unterdessen kündigte er neue Regierungsprogramme an, die 50'000 neue Jobs schaffen sollen. «Wir arbeiten daran, Schritt für Schritt, Massnahmen zu ergreifen, um Bürgern zu helfen, deren Kaufkraft gesunken ist», sagte er diese Woche.