Vor den Russen versteckt Ukrainer*innen riskieren ihr Leben, um Waisenkinder zu schützen

AP/toko

6.12.2022 - 21:58

Leere Krippen im Hof des regionalen Kinderheims von Kherson in der Südukraine.
Leere Krippen im Hof des regionalen Kinderheims von Kherson in der Südukraine.
AP Photo/Bernat Armangue

Mit gefälschten Angaben in den Krankenakten haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kinderspitals von Cherson die russischen Besatzer in die Irre geführt – um die Babys in ihrer Obhut zu schützen.

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Nur Stunden nach dem Einmarsch der ersten russischen Soldaten in der Ukraine begannen Olga Piljarska und ihr Team mit ihren geheimen Rettungsplänen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kinderkrankenhauses von Cherson fälschten Akten und ersonnen Geschichten, um die Babys und Kinder in ihrer Obhut vor einer Verschleppung zu bewahren. Denn dass dies drohen könnte, war ihnen nur zu bewusst.

«Absichtlich falsche Angaben»

«Wir haben absichtlich falsche Angaben gemacht, dass die Kinder zu krank seien und nicht transportiert werden könnten», sagt Piljarska, die Leiterin der Intensivstation der Kinderklinik. Natürlich hätten sie Angst gehabt, dass die Russen das herausfinden würden, aber sie seien entschlossen gewesen, die Kinder um jeden Preis zu retten.

Immer wieder im Verlauf des Krieges gab es Berichte über Verschleppungen ukrainischer Kinder. Den russischen Truppen wurde vorgeworfen, die Jungen und Mädchen nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete zu bringen, um sie dort als russische Kinder aufzuziehen. Mindestens 1000 Kinder wurden nach Angaben der örtlichen Behörden während der achtmonatigen russischen Besetzung der Region Cherson aus Schulen und Waisenhäusern geholt. Der Verbleib der meisten ist unbekannt.

Die Menschen in Cherson sind überzeugt, dass noch mehr Kinder verschwunden wären, wenn nicht einige der ihren ihr Leben riskiert hätten, um so viele Mädchen und Jungen wie möglich zu verstecken. Im Spital von Cherson erfanden die Mitarbeitenden Krankheiten für elf ausgesetzte Babys, die in ihrer Obhut waren.

Krankenschwester adoptierte Kind

So mussten sie sie nicht an ein Waisenhaus weitergeben, wo sie um die Gefahr des Transports nach Russland wussten. Ein Baby hatte auf dem Papier dann Blutungen an der Lunge, wie Piljarska auflistet. Ein anderes «unkontrollierbare Krämpfe», ein drittes brauchte «künstliche Beatmung». Eine Krankenschwester adoptierte kurzerhand eines der Kinder.

Am Stadtrand von Cherson, im Dorf Stepaniwka, war es der Leiter eines Reha-Zentrums, der Papiere fälschte, um 52 verwaiste oder anderweitig gefährdete Kinder zu verstecken. Wolodymyr Sahaidak brachte zudem einige der Jungen und Mädchen bei sieben seiner Mitarbeiter unter, andere wurden zu entfernten Verwandten geschickt. Einige der älteren Kinder blieben bei ihm. «Es schien, als ob mir meine Kinder einfach weggenommen würden, wenn ich sie nicht verstecken würde», sagt der 61-Jährige.

Einfach war das nicht. Nach der Besetzung Chersons und weiter Teile der Region begannen die russischen Soldaten, Waisenkinder an den Kontrollpunkten auszusortieren. Aber Sahaidak liess sich etwas einfallen. In einem Fall fälschte er die Unterlagen einer Gruppe von Kindern so, dass aus ihnen hervorging, dass die Kinder im Krankenhaus behandelt worden seien und von ihrer Tante zur Mutter gebracht würden, die im neunten Monat schwanger sei und auf der anderen Seite des Flusses auf sie warte.

Doch nicht alle Kinder hatten so viel Glück. Aus dem Waisenhaus in Cherson – wo die Kinderklinik die elf Babys hätte hinschicken müssen – wurden allein im Oktober etwa 50 Kinder geholt und angeblich auf die von Russland annektierte Krim gebracht, wie ein Wachmann und Nachbarn berichten. «Es kam ein Bus mit der Aufschrift «Z» und sie wurden weggebracht», sagt Anastasiia Kowalenko, die in der Nähe des Heimes wohnt. Das Z-Zeichen ist häufig auf russischen Panzern und Fahrzeugen zu sehen.

Zu Beginn der Invasion habe eine Gruppe aus der Gemeinde versucht, die Kinder in einer Kirche zu verstecken, sagen Anwohner. Nach einigen Monaten seien sie aber von den russischen Soldaten gefunden, zunächst in das Waisenhaus zurück- und schliesslich weggebracht worden.

Behörden suchen nach verschleppten Kindern

Nach Recherchen der Nachrichtenagentur AP versucht Russland, Tausende ukrainische Kinder in russische Familien zu geben. Das Institut für Kriegsstudien in Washington spricht von einer gezielten Entvölkerungskampagne in den besetzten Teilen der Ukraine und wirft Russland vor, unter dem Vorwand medizinischer Rehabilitation und unter dem Deckmantel von Adoptionsprogrammen Kinder zu deportieren.

Die russischen Behörden wiederum erklären, sie brächten Kinder nach Russland, um sie vor Feindseligkeiten zu schützen. Das Aussenministerium hat Vorwürfe zurückgewiesen, die Kinder würden verschleppt. Zugleich wurde betont, dass die Behörden nach Verwandten elternloser ukrainischer Kinder suchten, um die Jungen und Mädchen möglichst nach Hause zu schicken.

Derweil suchen ukrainische Behörden nach den Kindern, die von Soldaten weggebracht wurden. Sie wüssten noch immer nicht, was mit den Kindern und Jugendlichen passiert sei, erklärt Galina Lugowa, die Leiterin der Militärverwaltung von Cherson. «Wir kennen das Schicksal dieser Kinder nicht», sagt sie. «Wir wissen nicht, wo die Kinder aus den Waisenhäusern oder aus unseren Bildungseinrichtungen sind.»

Einige Ausnahmen gibt es. Im Juli hätten die Russen 15 Kinder von der Front erst in sein Reha-Zentrum gebracht und dann weiter nach Russland, sagt Wolodymyr Sahaidak. Mit Hilfe von Freiwilligen sei es ihm gelungen, die Kinder ausfindig zu machen und nach Georgien zu holen. Mehr will Sahaidak über die Aktion nicht verraten, um die Mädchen und Jungen nicht zu gefährden. Voraussichtlich würden sie in den kommenden Wochen in die Ukraine zurückkehren, sagt er.