Australien Omikron-Welle überrollt den einstigen Musterknaben

Von Kristen Gelineau, AP

13.1.2022 - 21:11

Warteschlange für Covid19-PCR-Tests vor einem Spital in Sydney.
Warteschlange für Covid19-PCR-Tests vor einem Spital in Sydney.
Mick Tsikas/AAP/dpa

Australien war in den Anfängen der Epidemien ein Musterbeispiel für wirkungsvolle Massnahmen gegen Corona. Aber nun rollt eine heftige Omikron-Welle durch das Land. Doch vor neuen strikten Beschränkungen schrecken die Politiker zurück.

Von Kristen Gelineau, AP

Wie Millionen andere Einwohner in Melbourne verbrachte Rav Thomas pflichtgemäss 262 Tage weitgehend an sein Haus gefesselt, während die Corona-Pandemie wütete. Ausserdem liess er sich impfen. Und irgendwie schaffte es der alleinstehende Vater von zwei Kindern, seine Rechnungen weiter zu bezahlen, obwohl die Lockdowns in Melbourne – weltweit die längsten, die in einer Stadt verhängt wurden – seine auf Unterhaltung und Events spezialisierte Firma schwer trafen.

Dann, im vergangenen Oktober, begann die Stadt die Restriktionen zu lockern, Thomas' Unternehmen buchte wieder Veranstaltungen, es schien aufwärts zu gehen. Bis Omikron kam. Nun rollt eine Welle von Infektionen mit der Virusvariante durch das Land – trotz einer hohen Impfrate und strikter Einreisebeschränkungen, die Australien fast zwei Jahre lang weitgehend von der Welt abgeschottet haben.



Covidfreies Utopia

Über diese Schutzmassnahmen, die Australien in den Anfängen der Pandemie zu einem praktisch covidfreien Utopia gemacht haben, wird derzeit wieder heftig diskutiert – nicht nur vor dem Hintergrund des derzeitigen Tauziehens um eine Teilnahme des ungeimpften Tennisstars Novak Djokovic an den Australien Open. Frustrierte Australier fragen, warum ihr Land, das anscheinend Alles zum Stoppen des Coronavirus getan hat, jetzt erneut von ihm befallen ist.

Über 600'000 aktive Covid-Fälle

«Du sagst deiner Bevölkerung: «Bleibt in euren Häusern, ihr könnt euch nach 20 Uhr abends nicht jenseits eures Briefkastens wegbewegen, tage-und monatelang.» Und dann wird euch gesagt: «Okay, wir haben alle Anstrengungen unternommen.» – Aber dann geht es von Neuem los. Wieder. Wieder!», sagt Thomas, dessen Firma jetzt ihren 23. Monat hintereinander Verluste verzeichnet.

Nach offiziellen Statistiken gibt es derzeit mehr als 600'000 aktive Covid-Fälle unter den 26 Millionen Einwohnern Australiens, aber Experten glauben, dass die tatsächliche Zahl noch weitaus höher ist. Viele von ihnen führen die Welle teilweise darauf zurück, dass zwei Dinge zusammengekommen seien: das Auftauchen der unglaublich ansteckenden Virusvariante und das Zögern von Politikern, ihr Versprechen einer Lockerung von Auflagen wie dem Maskenzwang aus der Zeit vor Omikron zu brechen.

Zwar ist die Regierung des bevölkerungsreichsten Bundesstaates New South Wales am Ende doch zurückgerudert und hat im Dezember erneut eine Maskenpflicht eingeführt. Aber da war es, wie Epidemiologen sagen, bereits zu spät.

Die Zahl der Krankenhausaufenthalte und Todesfälle ist zwar relativ niedrig, doch konnten die Vakzine den Omikron-Vormarsch nicht stoppen. Zwar haben 80 Prozent der Bevölkerung zumindest eine Dosis erhalten, aber das Impfprogramm begann später als in vielen anderen westlichen Ländern, und so hat sich ein grosser Teil der Bevölkerung noch nicht für Booster-Shots – eine dritte Impfung – qualifiziert.



Aber Impfungen allein reichten auch nicht aus, sagt Chefepidemiologe Adrian Esterman von der University of South Australia. Er hat Politiker aufgerufen, die Einhaltung der Maskenpflicht und von Sicherheitsabständen in der Praxis auch durchzusetzen und die Belüftung in Schulen zu verbessern, zumal sich die Sommerferien für die Schüler in der südlichen Hemisphäre dem Ende zuneigen. Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sind erst seit Januar für die Impfungen zugelassen. 

Ärzte sind zwar erleichtert, dass Australiens hohe Impfrate eine sogar noch schlimmere Krise mit überlasteten Krankenhäusern verhindert hat. Aber es sei doch schwierig gewesen mit anzusehen, wie Australien seine Position als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Covid-Eindämmung verloren habe, sagt Omar Khorshid, Präsident der australischen Mediziner-Vereinigung. «Es ist sicherlich frustrierend zu erleben, dass unsere Rate der Fälle pro Kopf der Bevölkerung beispielsweise in New South Wales gewissermassen auf den höchsten Stand in der Welt zusteuert, wo wir doch vor nicht langer Zeit auf dem niedrigsten Stand in der Welt waren.»

Kurswechsel verwirrt Australier

In den vergangenen Monaten hat die Regierung ihren bisherigen «Null-Covid»-Ansatz bei der Bekämpfung der Pandemie aufgegeben, jetzt wird nach dem Motto «mit Covid leben» verfahren. «Omikron hat alles geändert», so Ministerpräsident Scott Morrison kürzlich. «Meine Regierung ist dafür, Australien geöffnet zu lassen und uns da durchzuboxen.»

Der Kurswechsel hat viele Australier verwirrt und auch das Gesundheitssystem überrascht. Wer einen PCR-Test möchte, muss oft stundenlang anstehen, und es dauert Tage, bis man das Ergebnis erhält. Auch mangelt es an Antigen-Schnelltests, sodass kranke Australier manchmal gezwungen sind, diverse Läden abzuklappern.

Langsamer Start beim Boostern

Australiens langsamer Start seines Booster-Programmes habe die Bevölkerung verwundbar für Omikron gemacht und die Chancen erhöht, dass die Welle nicht so schnell zurückgehen werde wie in anderen Ländern, meint Epidemiologin Nancy Baxter von der Melbourne University. Australiens Politiker schienen besorgt zu sein, dass jegliche neue Beschränkung die Bevölkerung erzürnen würde, sagt die Ärztin. Aber sie könnten die Virus-Verbreitung immerhin verlangsamen, indem sie die Bevölkerung etwa mit kostenlosen N95-Masken und Schnelltests versorgten. «Wir könnten die Welle handhaben, doch es fehlt der politische Willen dazu», sagt Baxter.

Während Politiker offenbar vor neuen Lockdowns zurückschrecken, hat der Omikron-Ausbruch viele Australier veranlasst, freiwillig zu Hause zu bleiben. «Wir sind praktisch in einer Art selbst auferlegtem Lockdown, niemand geht aus», sagt Zara Madrusan, die mehrere Bars und Restaurants in Melbourne besitzt.

Thomas ist derweil mit einer ganzen Welle von Veranstaltungsabsagen konfrontiert, zumal seit dieser Woche in seinem Bundesstaat alle Tanzveranstaltungen in geschlossenen Räumen von Vergnügungseinrichtungen untersagt sind. Er fragt sich, wo all das hinführen wird. «Was ist unsere Ziellinie?»