Argentinien verarmt Wenn das Gehalt nicht mehr für die Miete reicht

Von Débora Rey, AP

30.9.2023

Ein Obdachloser schläft in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires auf einer selbstgebauten Konstruktion.
Ein Obdachloser schläft in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires auf einer selbstgebauten Konstruktion.
Quelle: Natacha Pisarenko/AP

Die galoppierende Inflation fordert ihren Tribut: In Argentinien rutschen immer mehr Menschen in die Armut ab. Die Frage, wie Abhilfe geschaffen werden kann, bestimmt auch den Präsidentschaftswahlkampf.

Von Débora Rey, AP

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  • Wegen einer Inflation von beinahe 100 Prozent kommen in Argentinien viele Menschen kaum mehr über die Runden.
  • So liegt der Anteil an Argentinier*innen, die in Armut leben bei 40,1 Prozent.
  • Der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat stellt nun in Aussicht, den Dollar einzuführen, um die Inflation zu stoppen.

Mit müden Gesichtern stellen sich die Bewohnerinnen und Bewohner einer Obdachlosenunterkunft an, um ein heißes Getränk und ein Stück Kuchen als Nachmittagssnack zu bekommen. Einrichtungen wie das Bepo-Ghezzi-Zentrum in Buenos Aires erfahren wachsenden Zulauf: Angesichts einer Inflation von mehr als 100 Prozent kommen immer mehr Menschen in Argentinien kaum noch über die Runden.

Der Anteil der Argentinierinnen und Argentinier, die in Armut leben, stieg im ersten Halbjahr 2023 auf 40,1 Prozent, wie die Statistikbehörde INDEC vor wenigen Tagen mitteilte. Im zweiten Halbjahr des Vorjahres hatte der Wert noch bei 39,2 Prozent gelegen.

Er habe sich seine Wohnung nach einer Mieterhöhung nicht mehr leisten können, sagt der 37-jährige Lionel Pais, der seit drei Wochen im Bepo-Ghezzi-Heim im Viertel Parque Patricios der Hauptstadt lebt. Unmittelbar zuvor hatte die Regierung die Landeswährung Peso um fast 20 Prozent abgewertet, was einen weiteren Preisanstieg auslöste. «Wegen dieser plötzlichen Verteuerungen, der wirtschaftlichen Situation im Land, kann ich meine Grundausgaben nicht mehr decken,» sagt Pais.

Das Land steckt seit 25 Jahren in einer Wirtschaftskrise

Im 20. Jahrhundert hatte sich in Argentinien eine große Mittelklasse entwickelt, was das südamerikanische Land zu einer Ausnahmeerscheinung in der Region machte. Doch die guten Zeiten sind vorbei, seit 20 Jahren liegt die Armutsquote bei mehr als 25 Prozent, und das Land steckt in einer Wirtschaftskrise fest. Die Preise stiegen zwischen August 2022 und August 2023 um 124,4 Prozent.

Der 26-jährige Sebastián Boned musste ebenfalls in die Obdachlosenunterkunft in Parque Patricios ziehen, weil sein Gehalt als Hotelrezeptionist nicht mehr für seine Miete reichte. «Es ist ein friedlicher Ort», sagt er über das Bepo-Ghezzi-Zentrum.

Doch für Boned und die übrigen Bewohnerinnen und Bewohner tickt die Uhr: Denn solche Einrichtungen gewähren nur für bis zu drei Monate Obdach. Während dieser Zeit erhalten die Bedürftigen Hilfe bei der Jobsuche und mit Anträgen auf Sozialhilfe. «Bei den meisten reicht das Gehalt nicht, um den Bedarf abzudecken», sagt Sozialarbeiterin Mercedes Vucassovich, die das Zentrum leitet.

Durschnittseinkommen liegt bei 218 Franken

Das monatliche Durchschnittseinkommen in Argentinien lag laut INDEC im zweiten Quartal dieses Jahres bei 87 310 Pesos (218 Franken). Eine typische Familie braucht mehr als 280 000 Pesos, um nicht in die Armut abzurutschen.

Im Vorort Morón westlich der Hauptstadt haben María de los Ángeles García und Adrián Viñas Coronel mit ihren fünf Kindern im Alter zwischen drei Monaten und 13 Jahren eine provisorische Unterkunft in einem einkommensschwachen Viertel gemietet. Zuvor hatte die Familie sechs Monate lang auf der Straße gelebt. Mit einer festen Adresse können sie nun ihre Kinder in einer staatlichen Schule anmelden.

Das einzige stabile Einkommen des Paares sind etwa 90 000 Pesos Sozialhilfe im Monat. Ein Viertel davon brauchen sie für ihre Miete. «Wir müssen den ganzen Tag auf der Straße arbeiten, weil wir nicht genug Geld für Essen und für die Windeln der Kinder haben», sagt die 31-jährige García.

Einführung des Dollars angekündigt

Wirtschaftsminister Sergio Massa, der für das Präsidentenamt kandidiert, hat in den vergangenen Wochen eine Reihe von Hilfsmassnahmen für die verarmte Bevölkerung vorgestellt. Zuletzt versprach er, dass Arbeitslose ohne Unterstützung im Oktober und November insgesamt 94 000 Pesos erhalten sollen. Massa versucht aktuell, Boden gut zu machen, denn in Umfragen zur Präsidentenwahl am 22. Oktober liegt der Rechtspopulist Javier Milei vorn. Dieser kündigte die Einführung des Dollars an, um die Inflation zu stoppen, sollte er Präsident werden.

García und ihre Familie erhalten Hilfe von der Nichtregierungsorganisation Corazón Azul, die Notleidende in der Gegend mit Snacks, medizinischer Unterstützung und Sachspenden versorgt. Zu den Bedürftigen gehört auch Alejandro Heredia. Er schläft in Zügen und sammelt Getränkedosen, die er an Recyclingunternehmen verkauft. «Wenn man denkt, man stecke in einer schlechten Lage, wird es immer noch schlimmer», sagt der 53-Jährige. «So geht es uns jetzt seit 40 Jahren, und es waren schon einige Regierungen an der Macht.»

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