Anschlag in Kabul Was wollen die Terroristen des afghanischen IS?

Von Lukas Meyer

27.8.2021

Zum Anschlag in Kabul von gestern bekennt sich ein regionaler Ableger des sogenannten Islamischen Staats. Was beabsichtigt die Terrormiliz? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Lukas Meyer

27.8.2021

Über 100 Personen kamen gestern bei einem Selbstmordanschlag am Flughafen Kabul ums Leben, darunter laut US-Verteidigungsministerium auch 18 US-Soldaten. Der sogenannte «IS-K», ein Ableger der Terrormiliz «Islamischer Staat», reklamiert die Tat für sich. Die Gruppe erklärte, ihr Attentäter habe US-Truppen und deren afghanische Verbündete ins Visier genommen.

Wer ist der IS-Ableger und wer ist dabei?

Die Chorasan-Gruppe des sogenannten Islamischen Staates wurde 2015 gegründet, kurz nach der Ausrufung des IS-Kalifats in Irak und Syrien. Der Name kommt von der Provinz Chorasan – auf Englisch Khorasan, darum die Abkürzung IS-K. Diese Region umfasste im Mittelalter weite Teile von Afghanistan, dem Iran und Zentralasien. In diesem Gebiet will die Gruppe ein neues Kalifat errichten.

Dem Ableger gehören fast 4000 Kämpfer an, erklärt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze auf Twitter. Die Gruppe habe ihre Hochburg in den Provinzen Nangahar und Kunar, im Osten des Landes an der Grenze zu Pakistan.

Diese Kämpfer setzen sich zusammen aus ehemaligen Mitgliedern der pakistanischen Taliban, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, sowieso gleichgesinnten Extremisten. Darunter sind auch frustrierte afghanische Taliban, denen der Kurs ihrer Führung zu gemässigt und friedlich war.

Zudem schlossen sich Kämpfer der militanten Islamischen Bewegung aus dem Nachbarland Usbekistan an. Auch Mitglieder von Minderheiten im Iran und in China kamen dazu, ebenso ehemalige IS-Kämpfer aus Syrien und geflohene afghanische Häftlinge.

Was will diese Terrormiliz?

Viele der Kämpfer zog die gewalttätige und extreme IS-Ideologie an, zu der das Versprechen eines Kalifats gehört, in dem die islamische Welt vereint sein werde. Für ein solches Ziel sind die Taliban nie eingetreten – sie beschränken ihren Kampf auf Afghanistan. Der IS-Ableger in Afghanistan und Pakistan hat sich dagegen den Aufruf der Terrormiliz zum weltweiten Dschihad zu eigen gemacht.

Die Gruppe hat schon zahlreiche Anschläge verübt. Die US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies zählt Dutzende Anschläge, die Kämpfer des IS-Ablegers bereits auf Zivilisten in Afghanistan und Pakistan verübt haben, darunter auf Angehörige der schiitischen Minderheit. Zudem kam es seit Januar 2017 zu Hunderten Gefechten mit afghanischen und pakistanischen Truppen sowie jenen der US-geführten Militärkoalition.

Im Vergleich zu den Taliban sei der IS «durch eine viel grössere Gewalttätigkeit» gekennzeichnet und sei auch eine transnationale Organisation, sagte die deutsche Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter im ZDF-«Morgenmagazin». Ziel sei die islamische Weltherrschaft. Das klinge absurd, sei aber der Grund, warum überall auf der Welt Anschläge stattfinden.

Wie steht die Gruppe zu den Taliban?

«Der IS-K sieht sich in Fundamentalopposition zu den Taliban, die ihm als ungläubige Ketzer gelten, für die Taliban sind die IS-ler schlicht Terroristen», erklärt Reinhard Schulze auf Twitter weiter. Die Gruppe verfolge eine ultrareligiöse Islam-Auslegung, die mit der puritanischen Orthodoxie der Taliban nichts gemein habe, und sei eine Bedrohung für das fragile Machtgefüge.

Die Taliban und der «Islamische Staat» konkurrierten um Macht, Einfluss und die religiöse Deutungshoheit, sagt auch Islamwissenschaftlerin Schröter. Man müsse nun Schlimmeres befürchten als nur ein «Emirat» der Taliban nach den Regeln der Scharia.

Die Taliban gehen seit Jahren gezielt gegen den IS-Ableger in Afghanistan vor. Für einige Operationen sollen sie dabei sogar von den USA und der afghanischen Regierung unterstützt worden sein. Trotzdem verübte die Gruppe weiter schwere Anschläge, intensivierte die Rekrutierung und versuchte, auch in Nordafghanistan Fuss zu fassen.



Der Sprecher des politischen Büros der Taliban in Doha, Suhail Schahin, erklärte, man verurteile den grausamen Vorfall aufs Schärfste und werde alles unternehmen, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Unter den Opfern befanden sich laut Angaben der von Schahin auch 28 Kämpfer der Taliban.

Der IS-Ableger wolle sich mit dem Anschlag weiter von den Taliban distanzieren, sagt Terrorexperte Wassim Nasr dem «Spiegel». Viele Afghanen empfänden es als Verrat, dass die Taliban tolerieren, dass Afghanen in Flugzeugen ausser Landes gebracht werden. «Damit demonstrieren die IS-Kämpfer, dass die Taliban nicht in der Lage sind, die Stadt, die sie erobert haben, unter ihre Kontrolle zu bringen.»

Was ist vom IS-Ableger zu erwarten?

US-General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt, sagt, man habe bei der Evakuierungsmission in Kabul mit einem Anschlag gerechnet – «und wir rechnen damit, dass sich diese Angriffe fortsetzen werden». Doch erst einmal stünden die Taliban-Herrscher allein da, und niemand weiss, ob ihre Kämpfer diese Aufgabe des Kampfs gegen den IS bewältigen könnten, so Experte Nasr im «Spiegel».

Doch der IS-Ableger beschränkt sich nicht auf Afghanistan: Aufgrund seines Profils sei er «transnational» ausgerichtet und könne externe Kämpfer eingliedern, so Islamwissenschaftler Schulze. Diese Frontlinie werde für die Taliban möglicherweise wichtiger als der Konflikt mit dem Widerstand im Pandschir-Tal.



Zwar hat der IS-Ableger bisher keine Anschläge auf das Staatsgebiet der USA ausgeführt, doch hält die US-Regierung ihn für eine anhaltende Bedrohung für die Interessen von Amerika und dessen Verbündeten in Süd- und Zentralasien. Doch habe man die Gefahr dank militärischer Operationen von «jenseits des Horizonts» und geheimdienstlicher Arbeit im Griff.

Eine der grössten Sorgen der USA nach dem Rückzug ihrer Kampftruppen aus Afghanistan ist, dass das Land unter den Taliban wieder zum Magnet und einer Basis für Extremisten werden könnte, die Anschläge auf den Westen vorbereiten. Dies sei eine Bedrohung, sagte Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan kürzlich im Sender CNN, «auf die wir mit jedem Mittel in unserem Arsenal fokussiert sind.»

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA, AP und DPA.