Virtuelle FrontUkrainische Computer-Nerds entscheiden diesen Krieg mit
tgab
20.12.2022
Ukrainische Programmierer nutzen eine spezielle Software, um die Bewegungen der russischen Armee vorherzusagen. Damit wollen sie ihrem Land einen Vorteil auf dem Schlachtfeld verschaffen.
tgab
20.12.2022, 06:45
20.12.2022, 11:53
Gabriela Beck
Auf dem Bildschirm leuchtet eine Karte der Ukraine. Mit einem Klick bevölkern sie Horden von orangefarbenen Diamanten. Sie zeigen russische Einsätze, enthüllen, wo Panzer und Artillerie versteckt wurden, verraten Details über die russischen Soldaten, die aus den sozialen Medien stammen. Eine andere Option aus dem Menü lässt rote Pfeile über der südlichen Region Saporischschja aufblinken, die den Verlauf der russischen Kolonnenbewegungen anzeigen. Beim Vergrössern werden Satellitenbilder des Geländes in scharfen Details angezeigt.
Was auf den Computerbildschirmen in einem unscheinbaren Bürogebäude am Stadtrand von Saporischschja zu sehen ist, halten die ukrainischen Programmentwickler für eine entscheidende Waffe, um die russische Invasion abzuwehren: eine ständig aktualisierte Darstellung der Schlachtfelder in der Ukraine. Denn wer die Bewegungen der feindlichen Streitkräfte vorhersagen kann, trifft schneller und genauer.
Neue Drohnenangriffe erschüttern Kiew
Kiew ist in der Nacht zu Montag nach Angaben der Militärverwaltung der ukrainischen Hauptstadt mit russischen Drohnen angegriffen worden.
19.12.2022
Schnelle Information entscheidet über Sieg oder Niederlage
Während viele Szenen aus dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit schlammigen Grabennetzen und verwüsteten Landschaften wie ein Rückfall in den Ersten Weltkrieg anmuten, ist der Konflikt auch ein Testfeld für die Zukunft der Kriegsführung, bei der Informationen in sofort nutzbarer Form für den einzelnen Soldaten bereitgestellt werden und entscheidend sein können für Sieg oder Niederlage.
Das Programm namens «Delta» wird vom Zentrum für Innovation und Entwicklung von Verteidigungstechnologien des ukrainischen Verteidigungsministeriums betrieben, einer Kooperation zwischen öffentlicher Hand und Unternehmen der Privatwirtschaft.
Tatiana, eine Mitarbeiterin des Innovationszentrums, sieht darin den entscheidenden Vorteil: «Unsere Programmierer stammen aus Wirtschaftsunternehmen, die für den Militärdienst mobilisiert wurden», sagt sie der britischen Zeitung «The Guardian». «Das sind keine Bürokraten des Verteidigungsministeriums, sondern Leute, die eine agile Arbeitskultur gewohnt sind.» Das heisst: Der kreative Prozess gipfelt häufig in handfesten Resultaten. «Du entwickelst es, du testest es, du bringst es auf den Markt.»
Computer-Nerds statt Soldaten
Die informellen Ursprünge des Innovationszentrums seien in der Beobachtungsaussenstelle am Standort Saporischschja offensichtlich, schreibt der Guardian weiter. Die Atmosphäre gleiche eher einer Informatikfakultät als einer Militäreinheit.
Am Ende eines Korridors befindet sich die Open-Source-Geheimdienstabteilung, wo ein halbes Dutzend junger Männer durch Massen von Social-Media-Beiträgen russischer Rekruten scrollen, Datums- und Standortinformationen daraus extrahieren und die Ergebnisse in Delta einspeisen. Ein Bildschirm zeigt ein paar Soldaten aus Dagestan, die für die Kamera martialische Posen einnehmen. Das Bild und die daraus gewonnenen Informationen über ihre Einheit, ihre Fähigkeiten und Befehle sind innerhalb von Minuten durch einen Klick auf die Delta-Karte zugänglich.
Andere wichtige Informationen, die in Delta einfliessen, stammen von Satellitenbildern, die von Nato-Partnern bereitgestellt werden und die Grundlage für die Schlachtfeldkarte bilden: Drohnenaufnahmen, die täglich hochgeladen werden sowie Fotos und Informationen, die von einem Netzwerk von Informanten hinter den russischen Linien geliefert werden.
All diese Informationen sind auf der Delta-Schlachtfeldkarte eingebettet, die über Starlink-Satellitenkommunikation live und für ihre militärischen Nutzer zugänglich gehalten wird.
Jeden Tag stellt jede der sechs über die Ukraine verteilten Beobachtungsaussenstellen eine Zusammenfassung der neuesten Entwicklungen in ihrem Sektor zusammen. Um sechs Uhr abends findet ein tägliches Live-Briefing statt, in dem die Schlussfolgerungen zusammengefasst und diskutiert werden.
Im Übrigen bittet das Innovationszentrum laut Guardian westliche Waffenlieferanten, ihre Softwareprotokolle zur Verfügung zu stellen, um neue Waffensysteme nahtlos mit Delta zu verbinden.