«Unmoralisch und heuchlerisch» Wie Berlin und Paris die Ukraine und Europa im Stich lassen

Von Philipp Dahm

1.2.2022

Faust auf Faust – aber nur bei der Begrüssung: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (links) und Deutschlands Kanzler Olaf Scholz am 17. Dezember in Brüssel. 
Faust auf Faust – aber nur bei der Begrüssung: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (links) und Deutschlands Kanzler Olaf Scholz am 17. Dezember in Brüssel. 
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Die Ukraine-Krise ist zwar noch im vollen Gange, doch schon jetzt zeichnen sich die ersten Verlierer ab: Deutschland, aber auch Frankreich und letztlich Europa verspielen gerade viel aussenpolitisches Ansehen.

Von Philipp Dahm

1.2.2022

Die Liste der bewaffneten Konflikte, in die Europa in den letzten drei Jahrzehnten verwickelt war und die erfolgreich gelöst worden sind, ist mehr als übersichtlich.

Der Kosovokrieg 1999? Konnte erst beendet werden, als die USA mit Luftangriffen so viel Druck auf Rest-Jugoslawien gemacht hatten, dass der damalige serbische Oberbefehlshaber Slobodan Milosevic einlenkte. Ohne Washington läuft nichts – und wenn das Pentagon nicht dabei ist, versanden die Einsätze so kläglich wie in Mali, wo Paris und Berlin ausser Erfahrung kaum etwas gewonnen haben.

Ein amerikanischer B-52-Bomber startet am 21. Februar 1999 in Fairford in England zu einem Flug Richtung Serbien.
Ein amerikanischer B-52-Bomber startet am 21. Februar 1999 in Fairford in England zu einem Flug Richtung Serbien.
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Wo der Hammer hängt, hat Frankreich zuletzt in Ozeanien erfahren müssen, als Australien von seinem milliardenschweren U-Boot-Kauf zurückgetreten ist – und Paris damit mächtig vor den Kopf gestossen hat. Dass dort nun amerikanische Atom-Taucher ganz oben auf der Liste stehen, liegt nicht nur an technischen Details.

Canberra hat genau abgewogen und die Franzosen für zu leicht befunden: Wenn es wirklich zum Krieg mit China käme, wie verlässlich stünden dann die Europäer hinter Australien? Würden sie tatsächlich einträchtig das mächtige Peking die Schranken verweisen? Lieferten sie auch dann Ersatzteile, wenn sie vielleicht selbst militärisch unter Druck wären?



Unsicherer Kantonist

Nein, Europa ist für Australien ein zu unsicherer Kantonist. Denn dass da die richtige Wahl getroffen ist, beweisen die Europäer nun erneut in der Ukraine-Krise – und auch wenn diese noch nicht ausgestanden ist, muss man jetzt schon konstatieren, dass die ersten Verlierer des Konflikts feststehen: Es sind erst Deutschland und dann Frankreich im Speziellen und die EU im Allgemeinen.

Material für die Ukraine: Am 22. Januar wird in Kiew ein Frachtflugzeug aus den USA entladen.
Material für die Ukraine: Am 22. Januar wird in Kiew ein Frachtflugzeug aus den USA entladen.
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Paris und Berlin sind seit jeher der Motor der EU und wollen vorangehen, doch ihre aktuelle Ukraine-Politik befremdet viele andere Mitglieder: Während die kleinen Staaten Russlands Drohungen mit Einigkeit und Solidarität kontern, eiert vor allem Deutschland herum. So haben etwa Dänemark und die Niederlande Kampfflugzeuge ins Baltikum und nach Bulgarien verlegt.

Die baltischen Staaten selbst, die russische Minderheiten im Land und Moskaus Arsenal vor der Haustür haben, helfen der Ukraine mit Javelin-Panzerabwehr-Raketen aus. Estland hätte den Nachbarn zusätzlich gern auch mit Artillerie-Geschützen geholfen, doch daraus wird nichts: Berlin blockiert die Weitergabe der ursprünglich ausgerechnet sowjetischen D-30-Geschütze, die Estland aus DDR-Beständen bekommen hat.

«Es ist ein Witz»

Auch auf eigene Waffenhilfe an die Ukraine verzichtet Berlin. Ein Feldlazarett liegt noch drin, doch das wird von Deutschland auch bloss mitfinanziert: Die Lieferung selbst kommt aus Estland. Als das bekannt wurde, hat Kiew ausserdem angefragt, ob Kanzler Olaf Scholz zumindest mit Schutzwesten und 100'000 Helmen helfen könnte. Die Antwort: 5000 Helme können wir abgeben.

Was sagen die Betroffenen zu diesem «Hilfsangebot»? Stellvertretend für das ganze Land ordnet Vitali Klitschko die Offerte ein. Der frühere Box-Weltmeister hat viele Jahre in der Bundesrepublik gelebt und ist heute Bürgermeister von Kiew. Als der britische Sender «Sky News» ihn auf die deutsche Lieferung anspricht, kann der 50-Jährige nur bitter seufzen.

«Es ist ein Witz», sagt Klitschko. Er müsste sich eigentlich bedanken, aber dafür sei das einfach zu wenig. Die Ukraine brauche defensive Waffen, um sich zu verteidigen, erklärt «Dr. Steelhammer». Als der Reporter schnippisch erwähnt, Berlin habe bekundet, das Lazarett und die Helme zeigten eindeutig, auf wessen Seite Deutschland sei, denkt Klitschko kurz nach.

Wo steht Deutschland?

Dann antwortet er: «Deutschland muss sich entscheiden, auf welcher Seite es steht: Will es der Ukraine helfen, sich zu verteidigen und seine territoriale Integrität zu schützen, oder steht es auf der Seite des Aggressors.» Aussenminister Dmytro Kuleba ist ebenso wenig dankbar: Das Angebot «ermutige Wladimir Putin» und «unterminiere die Einheit» Europas.

Warum ziert sich Deutschland so? Was im Zusammenhang mit Deutschland stets beachtet werden muss, ist die Vergangenheit. Man wolle keine Waffen in Krisengebiete liefern, betet Berlin sein Credo vor. Dabei ist das Land der weltweit fünftgrösste Rüstungsexporteur – noch vor China und Grossbritannien. 

Statistic: Market share of the leading exporters of major weapons between 2016 and 2020, by country | Statista
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Und mit den Krisengebieten hat es Berlin auch nicht immer so genau genommen, wie Waffenlieferungen in die Türkei, nach Saudi-Arabien, Afghanistan, Irak, Jemen oder auch Südkorea zeigen. Gerade erst hat die neue Bundesregierung den milliardenschweren Verkauf von Fregatten an Ägypten abgesegnet, wo eine autokratische Regierung die Macht hält.

Abhängigkeit von Russland

Auch Israel hat Material aus Deutschland bezogen. Hier argumentiert Berlin, man helfe einem anderen Land, sich zu wehren. Warum das bei der Ukraine nicht möglich ist? Ganz offensichtlich fehlt es am politischen Willen. Deutschlands Vergangenheit erklärt also nicht, warum Berlin sich ziert.

Dass Olaf Scholz kalte Füsse bekommt, dürfte eher an Deutschlands Abhängigkeit von russischer Energie liegen: 30 Prozent des Erdöls und 50 Prozent des Erdgases werden aus Russland bezogen. Und trotz dieser Abhängigkeit soll es noch mehr werden, sollte Nord Stream 2 eröffnet werden, über die die Ukraine umgangen wird.

Bisher hat Deutschland stets so getan, als könne man eine wirtschaftliche Sache wie die Pipeline von politischen Fragen trennen. Der Bau war von Ex-Kanzler Gerhard Schröder aufgegleist worden, der nach seinem Abgang prompt in den Aufsichtsrat der Betreiberfirma Gazprom wechselte. Der Vorgang ist ähnlich ungeheuerlich wie Schröders frühere Aussage, Wladimir Putin sei ein «lupenreiner Demokrat».

Bromance: Der frühere Kanzler Gerhard Schröder, seine Ex-Frau Doris Schröder-Köpf und Wladimir Putin im April 2004 in Hannover. Der «lupenreine Demokrat» aus Russland war auch damals schon Präsident.
Bromance: Der frühere Kanzler Gerhard Schröder, seine Ex-Frau Doris Schröder-Köpf und Wladimir Putin im April 2004 in Hannover. Der «lupenreine Demokrat» aus Russland war auch damals schon Präsident.
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«Säbelrasseln in der Ukraine»

Was ein Gerhard Schröder zum aktuellen Konflikt sagt, kann dann auch niemanden überraschen: «Ich hoffe sehr, dass man endlich auch das Säbelrasseln in der Ukraine wirklich einstellt», sagte er in dem Podcast «Die Agenda». «Denn was ich dort vernehmen muss, auch an Schuldzuweisungen an Deutschland, wegen der ja vernünftigen Absage an Waffenlieferungen, das schlägt manchmal doch dem Fass den Boden aus.»

Die grüne Aussenministerin Annalena Baerbock kritisierte der Ex-Kanzler so: «Ich habe mich gewundert, dass man Russland besucht und vorher in Kiew ist.» Diese sonderbare Hörigkeit gegenüber Russland ist nur von Kay-Achim Schönbach getoppt worden: Der inzwischen geschasste Vize-Admiral hatte geurteilt, die Krim sei nun mal verloren – und Putin wolle bloss den Respekt, «der ihm wahrscheinlich auch zusteht».

Die Folgen dieser deutschen Politik sind schwer absehbar, doch was sich bisher zeigt, kann Berlin nicht recht sein. Wenn ein Land wie Polen über Lösungen im Ukraine-Konflikt spricht, geht es um die USA und vielleicht noch die OSZE, doch vom Normandie-Format mit Deutschland und Frankreich spricht dort ganz bewusst niemand. Warschau weiss: Substanzielle Hilfe kommt im Ernstfall aus Amerika und nicht Europa.

«Unmoralisch und heuchlerisch»

Und auch im Baltikum können sie die deutsche Politik nicht nachvollziehen. Ungewöhnlich deutlich hat der lettische Verteidigungsminister Scholz und sein Kabinett kritisiert. «Die Deutschen haben bereits vergessen, dass es Amerika war, das ihre Sicherheit nach dem Zweiten Weltkrieg garantiert hat», ärgert sich Artis Pabriks in der «Financial Times». «Aber das sollten sie. Es ist ihre moralische Pflicht.» 

Ein Eurofighter Typhoon der Royal Air Force in Rumänien: Neben den kleineren europäischen Ländern unterstützen auch grössere Staaten wie Grossbritannien oder Spanien die Ukraine.
Ein Eurofighter Typhoon der Royal Air Force in Rumänien: Neben den kleineren europäischen Ländern unterstützen auch grössere Staaten wie Grossbritannien oder Spanien die Ukraine.
Archivbild: KEYSTONE

Er frage sich, wie Berlin reagiere, wenn Lettland Probleme mit Russland hätte. Oder mit China: Lettland baut gerade Beziehungen zu Taiwan auf. Mit Blick auf die fehlende Waffenhilfe sagte Parbiks: «Es ist unmoralisch und heuchlerisch. Es treibt einen Keil zwischen Ost- und Westeuropa.» Nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Dänemark und den Niederlanden wird man ihm zustimmen.

Wieder einmal hat Europa damit bewiesen, dass es leider doch keine Wertegemeinschaft ist, sondern bloss ein Gebilde aus Einzelinteressen. Frankreich ist zwar aktiver als Deutschland und hat etwa Truppen nach Rumänien entsandt, doch Paris hat es versäumt, zusammen mit Berlin eine klare Haltung zu zeigen und den kleineren Staaten Mut zu machen. Klar ist: Europa wird auf absehbare Zeit keine sicherheitspolitische Alternative zu den USA werden.