Wirtschaftskrise Wie Armut junge Libanesen in den Extremismus treibt

Von Bassem Mroue und Fay Abuelgasim, AP

7.2.2022 - 00:00

Das Dorf Wadi Nahleh war die Heimatstadt mehrerer libanesischer Bürger, die am Wochenende im Irak getötet wurden.
Das Dorf Wadi Nahleh war die Heimatstadt mehrerer libanesischer Bürger, die am Wochenende im Irak getötet wurden.
AP Photo/Bassem Mroue/Keystone

Erspartes ist wertlos geworden, die Aussichten auf einen Job schwinden zusehends. Zum Teil kommen auch noch Schikanen der Behörden hinzu. Dutzende sunnitische Jugendliche haben sich wegen der Krise im Land offenbar dem IS angeschlossen.

7.2.2022 - 00:00

Zwei Wochen vor der geplanten Hochzeit sagte Bakr Seif zu seiner Mutter, er wolle vor dem Mittagessen noch kurz bei der Verlobten vorbeischauen. Als er am späten Abend noch immer nicht zurück war, rief die Mutter bei der Verlobten an. Wie sich herausstellte, war er gar nicht dort gewesen. Dieser Tag, der 8.

Dezember, war der letzte, an dem die Mutter ihren Sohn sah. Am vergangenen Sonntag wurde Seif bei einem Angriff der irakischen Luftwaffe getötet.

Bei dem Angriff im Osten des Iraks kamen insgesamt neun mutmassliche Extremisten ums Leben. Mindestens vier von ihnen stammten aus dem Libanon – alle aus einem kleinen, verarmten Dorf am Rande der nördlichen Stadt Tripoli. Sie waren, wie Dutzende weitere junge Männer aus dem Land, in den zurückliegenden paar Monaten aus ihrer Heimat verschwunden und später irgendwo im Irak aufgetaucht, wo sie sich offenbar der sunnitischen Terrormiliz IS angeschlossen hatten.



Nährboden für Extremismus

Wegen der schweren Wirtschaftskrise im Libanon wächst inzwischen auch die Sorge vor einer neuen Welle der Rekrutierung durch Extremisten. Der Nährboden scheint dafür geradezu ideal zu sein: In dem ohnehin von konfessionellen Spannungen geprägten Land sind Tausende Menschen in die Armut abgerutscht. Die Währung ist zusammengebrochen, in vielen Familien reicht das Geld kaum noch für Grundnahrungsmittel. Gerade bei Jugendlichen macht sich Verzweiflung breit.

Es ist aber nicht allein die Armut, die einige junge Männer in die Radikalisierung treibt. In Tripoli und Umgebung leben besonders viele sunnitische Muslime. Viele von ihnen fühlen sich von der Regierung in Beirut vernachlässigt. Die Sicherheitskräfte gehen in der Region immer wieder gegen Jugendliche vor. Aktivisten beklagen seit Jahren, dass Tausende wegen angeblicher Verbindungen zu Extremisten ohne Gerichtsverfahren gefangen gehalten werden.



Deswegen ging auch die Mutter von Seif zunächst davon aus, dass ihr Sohn vom libanesischen Geheimdienst festgenommen worden sei. Doch fünf oder sechs Tage vor seinem Tod, rief er plötzlich bei ihr an. Er habe ihr nicht verraten wollen, wo er sich zu dem Zeitpunkt aufgehalten habe, sagt die Mutter. Ohne nähere Erklärung habe er bloss gesagt: «Man hat mir Unrecht getan. Man hat mir Unrecht getan.»

«Er lebte in ständiger Angst»

Seif war vor seinem Verschwinden sieben Jahre wegen Terrorismusvorwürfen inhaftiert gewesen. Erst im vergangenen Juni kam er frei, ohne dass es je einen Prozess gegeben hätte. Die Familie beteuert bis heute, dass er unschuldig gewesen sei. Nach der Freilassung wollte ihm trotzdem niemand einen Job geben. Also eröffnete die Familie einen Lebensmittelladen, in dem er arbeiten konnte. «Er lebte in ständiger Angst», sagt die Mutter.Er habe niemandem mehr getraut.

Während der Hochphase des Syrischen Bürgerkriegs vor einigen Jahren hatten sich bereits Hunderte Libanesen in dem Nachbarland Rebellengruppen angeschlossen – auch solchen mit Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida. Der Zustrom zum IS im Irak scheint aber neu zu sein. Aus Tripoli und Umgebung seien in den vergangenen Monaten etwa 70 bis 100 junge Männer verschwunden, sagt der Anwalt Mohammed Sabluh, der sich für die Rechte von Gefangenen einsetzt. Die genaue Zahl sei aber nicht bekannt.

Sabluh geht davon aus, dass die überwiegend aus armen Bezirken stammenden Männer zum Teil mit falschen Versprechungen angelockt wurden. Womöglich hätten sie auf einen Job gehofft und gar nicht realisiert, dass sie sich dabei dem IS anschliessen würden, sagt er. Andere hätten sich wohl vor den Übergriffen der libanesischen Sicherheitskräfte gefürchtet.

In Tripoli selbst hatten im Jahr 2014 vom IS inspirierte Extremisten Attentate auf libanesische Soldaten verübt. Das Verschwinden junger Männer nahm im vergangenen August zu. Kurz zuvor war in der Stadt der frühere Geheimdienstmitarbeiter Ahmed Murad getötet worden. Bei der Suche nach den Tätern nahmen die Streitkräfte laut eigenen Angaben sechs Mitglieder eines lokalen IS-Ablegers fest. Womöglich ergriffen andere IS-Mitglieder in der Region daraufhin die Flucht.

IS wird wieder stärker

In Syrien und im Irak ist die sunnitische Terrormiliz zuletzt wieder stärker in Erscheinung getreten. Am 20. Januar stürmten etwa 200 IS-Kämpfer in der nordostsyrischen Stadt Hassake ein Gefängnis. Am 21. Januar überfielen IS-Anhänger einen Militärstützpunkt in der irakischen Provinz Dijala und töteten dabei einen Wachposten und elf schlafende Soldaten. Der irakische Luftangriff am vergangenen Sonntag galt dem örtlichen IS-Ableger, der für den Überfall verantwortlich gewesen sein soll.

Nach irakischen Angaben waren vier Libanesen unter den Opfern – zuvor waren seit Dezember bereits mindestens zwei weitere Extremisten aus dem Libanon im Irak getötet worden. Nach Angaben des Bürgermeisters von Wadi Nahle, Fadel Seif, stammten sogar fünf der Opfer vom Sonntag aus dem libanesischen Ort: Bakr Seif und dessen Cousin Omar Seif sowie drei Freunde von ihnen. «Es sind mehrere Faktoren, die die Jugend in die Flucht treiben», sagt der Bürgermeister. In erster Linie aber sei es der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten.

Die Mutter von Omar Seif sagt, ihr Sohn sei am letzten Tag des Jahres2021 verschwunden, nachdem er zuvor lange Zeit von libanesischen Sicherheitskräften schikaniert worden sei. Er habe ebenfalls mehrere Jahre im Gefängnis verbracht. Und auch nach seiner Freilassung habe die Polizei ihn immer wieder mitgenommen und verprügelt sowie mit Elektroschocks misshandelt. «Das Gefängnis hat uns zerstört», sagt die Mutter – «unsere Kinder, unseren Ruf und unsere Würde». Omar habe kein normales Leben mehr führen können.

Von Bassem Mroue und Fay Abuelgasim, AP