Beirut ein Jahr nach der Explosion Darum lässt Libanons Elite ihr eigenes Volk im Stich

Von Gil Bieler

4.8.2021

Auch ein Jahr nach der massiven Explosion in Beirut mit über 190 Toten stockt die Aufarbeitung. Wie die regierenden Oligarchen taktieren und warum es keine rasche Lösung gibt, erklärt ein Libanon-Experte der Universität St. Gallen.

Von Gil Bieler

4.8.2021

Eine Detonation, gefolgt von einer gewaltigen Druckwelle. Autos werden weggeschleudert wie Spielzeug, Häuserfassaden zersplittern, Fenster sowieso. Was sich am 4. August 2020 in der libanesischen Hauptstadt Beirut ereignet, wirkt wie eine Szene aus einem Katastrophenfilm. Doch die Katastrophe ist echt. Und sie wirkt bis heute nach.

Die Wucht der Explosion zerstört nicht nur den Hafen, sondern auch die angrenzenden Wohnviertel. Mehr als 190 Menschen kommen ums Leben, rund 6000 weitere werden verletzt. 

Wie konnte es zu dieser Tragödie kommen? Antworten bleibt die Regierung der Bevölkerung bis heute schuldig. Immerhin der Auslöser der Detonation wurde ausgemacht: Ammoniumnitrat. Hunderte Tonnen der gefährlichen Chemikalie lagerten ungenügend gesichert im Hafen und haben sich entzündet.

Doch wer für die Tragödie verantwortlich ist, wie die Hinterbliebenen und die Betroffenen entschädigt werden sollen – all das ist noch immer ungeklärt. Die Aufräumarbeiten stocken, der Libanon versinkt noch tiefer in der Wirtschafts- und Finanzkrise, die das Land seit über zwei Jahren lähmt.

Der Staat als Selbstbedienungsladen

Die Hauptursache für die Misere liege im politischen System des Landes, sagt Andreas Böhm, der an der Universität St. Gallen lehrt und regelmässig beruflich in den Libanon reist. «Es gab im Libanon nie einen Staat, der sich für alle Bürger verantwortlich fühlt. Jeder schaut nur auf seinen eigenen Vorteil und den seiner Klientel.»

Zur Person
Andreas Boehm, Leiter des Kompetenzzentrums Philanthropie
zVg

Andreas Böhm leitet das Kompetenzzentrum für Philanthropie an der Universität St. Gallen, sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Nahen und Mittleren Osten. Im selben Themenbereich hat er von 2008 bis 2015 in der Privatwirtschaft als politischer Analyst gearbeitet.

Im Libanon wird die Macht unter den konfessionellen Gruppierungen aufgeteilt. Dieses Allparteiensystem setzte zwar dem Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 das Land zerstörte, ein Ende. Doch der Konflikt wurde lediglich verlagert. «Die Warlords von früher bilden ein Machtkartell in Politik, Finanz und Wirtschaft», erklärt Böhm, der morgen Donnerstag erneut nach Beirut reisen wird. «Sie haben einfach die Kampfmontur abgestreift und sich Businessanzüge angezogen.»

Die Organisation Transparency International führt den Libanon in ihrem Korruptionsindex 2020 auf dem unrühmlichen Platz 149 bei insgesamt 180 Ländern. 

Den Staat betrachten die libanesischen Oligarchen laut Böhm als Beute, die man unter sich und ihren Verbündeten aufteilen könne. Dabei gehe es um Postengeschacher und natürlich um Geld. Jeder Minister verantworte ein Budget und könne lukrative Aufträge vergeben. Und klar sei auch: «Ihr eigener Profit ist den Politikern viel wichtiger als die Nöte der Bevölkerung.»

Exemplarisch dafür stehe der Fall zweier Schiffe aus der Türkei. Diese sind als schwimmende Kraftwerke vor der libanesischen Küste stationiert und beliefern das Land mit Strom. «Mit dem Geld, das man für diese Schiffe ausgibt, hätte man im Libanon längst eigene Kraftwerke bauen können», erklärt Böhm. «Doch haben zu viele Akteure im Energieministerium an dieser undurchsichtigen Auftragsvergabe ordentlich mitverdient.»

Die Stromversorgung im Libanon ist dennoch katastrophal: Stundenlange Blackouts gehören zum Alltag, Spitäler und Unternehmen müssen sich mit eigenen Generatoren behelfen. Die Bevölkerung leidet. «Jetzt im Sommer ist es im Libanon so heiss, dass man nachts nicht schlafen kann, wenn die Klimaanlage ausfällt», sagt Böhm.

Dabei wäre es möglich gewesen, im Libanon eine funktionierende Strom- oder Wasserversorgung zu errichten. Bloss fehle den politischen Akteuren der Wille dazu. Und Böhm erwartet auch nicht, dass es nun zu einem plötzlichen Umdenken kommt.

«Es bräuchte massiven Druck von der Strasse»

Das «Geschäftsmodell» der Politiker, wie Böhm es nennt, habe lange Zeit gut funktioniert – solange genug Geld aus dem Ausland in den Libanon geströmt sei. Doch nach einer ganzen Reihe von Ereignissen in den letzten Jahren habe sich dies als Schneeballsystem herausgestellt. Zu diesen Ereignissen zählt der Experte den Ausbruch des Syrienkriegs 2011 und den Sinkflug des Ölpreises. Im Sommer 2019 sei schliesslich der Punkt erreicht worden, an dem der Kollaps nicht mehr zu kaschieren gewesen sei.

Wie aber soll sich etwas ändern? «Dazu bräuchte es neben internationalen Bemühungen massiven Druck von der Strasse», sagt er. Wobei dieser wohl in ein paar Wochen oder Monaten bereits wieder wachsen dürfte, denn: «Die Situation im Land wird von Tag zu Tag schlimmer.»

Die Währung, die libanesische Lira, hat massiv an Wert verloren. Ein Grossteil der Bevölkerung lebt mittlerweile in Armut, vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen.

Eine rasche Lösung sieht Böhm dennoch nicht. Es gebe nicht einen gordischen Knoten, der zerschlagen werden müsse, sondern gleich mehrere. Die Oligarchen im Land stritten sich um das letzte bisschen, was es zu verteilen gebe. Gleichzeitig stemmten sie sich mit aller Kraft dagegen, wegen ihrer Machenschaften zur Rechenschaft gezogen zu werden.



Und nicht zuletzt würden sie abwarten, wie sich die politische Lage in der Region entwickle – etwa die Gespräche zwischen den USA und dem Iran über das iranische Atomabkommen. «Man taktiert und spielt auf Zeit, um nicht auf der falschen Seite zu stehen», fasst der Forscher dieses Ausharren zusammen.

Das Ausland könne zwar versuchen, mit Sanktionen auf die Entwicklung im Libanon einzuwirken, wie dies die EU erwäge. «Aber besser wäre es, Druck auszuüben und die nach Europa geflossenen Geldströme dieses korrupten Netzwerks offenzulegen und einzufrieren.»

Der Nächste, bitte

Wie unwahrscheinlich ein Wandel in dieser Gemengelage ist, zeigt sich an der Staatsspitze. So ist die Regierung von Ministerpräsident Hassan Diab infolge der Tragödie vom August 2020 zurückgetreten – eigentlich. Doch weil bereits zwei Kandidaten damit gescheitert sind, eine neue Regierung zu bilden, bleibt die alte trotzdem geschäftsführend im Amt.

Als Nächstes ist der milliardenschwere Geschäftsmann Nadschib Mikati an der Reihe. Er hat Ende Juli von Staatspräsident Michel Aoun den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Mikati ist Sunnit, war 2005 und von 2011 bis 2013 schon einmal Ministerpräsident und ist einer der reichsten Männer des Landes. Mehr Teil des Establishments geht wohl nicht.

Brennende Reifen und Abfallcontainer als Strassensperren in Beirut: Die Wut der Bevölkerung auf die Staatsspitze ist im Libanon nach wie vor gross.
Brennende Reifen und Abfallcontainer als Strassensperren in Beirut: Die Wut der Bevölkerung auf die Staatsspitze ist im Libanon nach wie vor gross.
Bild: EPA/Nabil Mounzer