41 Taten, 210 ToteZahl der Massenmorde in den USA steigt auf Rekordwert
AP
30.12.2019
Seit den 70ern gab es in den USA nicht mehr so viele Massenmorde: Meist verwenden die Täter Schusswaffen, die sie auf Verwandte oder Bekannte richteten. Kriminologen fürchten einen Dominoeffekt.
Nur 19 Tage war das Jahr alt, als es in den USA zum ersten Massenmord von 2019 kam. In Oregon ermordete ein Mann mit einer Axt vier Familienmitglieder, darunter seine kleine Tochter.
Fünf Monate später wurden zwölf Menschen an ihrem Arbeitsplatz in Virginia getötet, 22 kamen im August in einem Supermarkt in El Paso ums Leben. Das zu Ende gehende Jahr war nach einer Recherche der Nachrichtenagentur AP, der Zeitung «USA Today» und der Northeastern University das mit den meisten Massenmorden seit den 1970er-Jahren.
41 Massenmorde wurden gezählt, definiert als Taten mit mindestens vier Todesopfern, den Angreifer nicht hinzugerechnet. Bei 33 dieser Vorfälle kamen Schusswaffen zum Einsatz. Mehr als 210 Menschen verloren ihr Leben. Und doch schafften es die meisten der Taten in den USA kaum in die landesweiten Nachrichten, weil sie nicht im öffentlichen Raum stattfanden.
Der Untersuchung zufolge kannten sich Täter und Opfer meist: Es ging um Streitigkeiten in der Familie, um Drogengeschäfte oder Konflikte am Arbeitsplatz. Das genaue Motiv der Täter blieb jedoch häufig im Dunkeln. So war es auch bei der Tat in Oregon.
Die eigene Familie ausgelöscht
Der 42-jährige Mann erschlug seine Mutter, seinen Stiefvater, seine Lebensgefährtin und die neun Monate alte Tochter. Zwei weiteren Menschen gelang rechtzeitig die Flucht. Die Bluttat endete erst, als die Polizei den Angreifer erschoss. Verwandte und Freunde konnten kein Motiv für die Morde nennen.
"She said it was like an ax."
A neighbor (who wants to remain anonymous) says 1 of 2 survivors of the quadruple homicide ran to his house, bleeding.
He says she told him Gago attacked her in her sleep w/ a weapon. She said she fought him off & escaped. She thought he was high. pic.twitter.com/WWZp7nLXjo
Der Mann sei zwar wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt geraten und es habe auch Streit in der Familie gegeben, aber nichts davon habe bei ihnen die Alarmglocken schrillen lassen, sagten sie aus. Der Vorfall in Oregon war einer von 18 Massenmorden, bei denen Angehörige zum Opfer wurden. Und er war einer von sechs, bei denen keine Schusswaffe benutzt wurde.
Die 41 Massenmorde waren die meisten innerhalb eines Jahres in den USA seit Beginn der Zählungen durch die Nachrichtenagentur AP, «USA Today» und Northeastern 2006. Andere Untersuchungen, die bis in die 1970er-Jahre zurückreichen, ergaben, dass es seit dieser Zeit kein Jahr mit so vielen Massenmorden gab.
2017: Weniger Massenmorde, aber mehr Todesopfer
In der Statistik folgt das Jahr 2006 mit 38 solcher Taten. Mehr Todesopfer wurden allerdings 2017 gezählt, als 224 Menschen bei Massenmorden ums Leben kamen. In dem Jahr erschoss ein Mann in Las Vegas 58 Besucher eines Musikfestivals. Es war die höchste Opferzahl eines Einzeltäters in der Geschichte der USA.
Acht und damit die meisten Massenmorde des zu Ende gehenden Jahres wurden in Kalifornien verübt, einem Staat mit verhältnismässig strengen Waffengesetzen. Fast die Hälfte der US-Staaten verzeichneten einen Massenmord, von Grossstädten wie New York bis hin zu Dörfern wie Elkmont in Alabama.
Der Kriminologe James Densley erklärt, die Datenbank von AP, «USA Today» und Northeastern bestätige seine Untersuchungen zu Massakern – wobei der Professor sich auf solche Taten konzentriert, die mit Schusswaffen begangen werden. «Die Zahl der Massenmorde nimmt zu, während gleichzeitig die Tötungsdelikte allgemein zurückgehen», sagt er.
Dominoeffekt befürchtet
Densley verweist darauf, dass Kriminalität in Wellen auftrete. So seien in den 1970er- und 1980er-Jahren zahlreiche Serienmörder überführt worden, die 1990er seien geprägt gewesen von Schulmassakern und Kindesentführungen, während in den frühen 2000ern die Angst vor Terrorismus umgegangen sei. «Jetzt leben wir anscheinend im Zeitalter der Massenerschiessungen.»
Schüsse im Einkaufszentrum: Ein Polizeiauto steht an der Einfahrt zu dem Walmart in El Paso, Texas.
Bild: KEYSTONE/EPA/IVAN PIERRE AGUIRRE
Schüsse im Einkaufszentrum: Schwerbewaffnete Einsatzkräfte vor dem Walmart.
Bild: KEYSTONE/EPA/IVAN PIERRE AGUIRRE
Schüsse im Einkaufszentrum: Ein Beamter steht einsatzbereit am Ort des Geschehens.
Bild: KEYSTONE/EPA/IVAN PIERRE AGUIRRE
Grosseinsatz der Polizei vor dem Einkaufszentrum in El Paso.
Bild: KEYSTONE/EPA/IVAN PIERRE AGUIRRE
Ein Polizist bewacht einen Notausgang in dem Einkaufszentrum in El Paso.
Bild: KEYSTONE/EPA/IVAN PIERRE AGUIRRE
Ein Polizist während des Einsatzes.
Bild: KEYSTONE/EPA/IVAN PIERRE AGUIRRE
Densley fürchtet genauso wie sein Kollege James Alan Fox von der Northeastern University einen Dominoeffekt – dass also die Berichterstattung und Debatten über Massenmorde zu weiteren Taten dieser Art führen könnten. «Diese Ereignisse sind immer noch sehr selten», erklärt Fox. «Das Risiko ist gering, aber die Angst ist gross.» Und Angst führe zum Dominoeffekt.
Viel Aufmerksamkeit erfuhren im August zwei Massenmorde in Texas und ein weiterer in Ohio, weil es dort zahlreiche Todesopfer gab. Aber solche Taten hinterlassen bei Dutzenden weiterer Menschen körperliche und seelische Wunden. Die Datenbank listet nicht alle Verletzten auf, aber allein bei den drei Taten im August wurden mehr als 65 Menschen verletzt.
Im Kreuzfeuer
Einer von ihnen war der 28 Jahre alte Daniel Munoz, der mit seinem Auto in Odessa im Westen von Texas ins Kreuzfeuer geriet. Er duckte sich gerade noch rechtzeitig, bevor sein Auto von mehreren Kugeln getroffen wurde. Munoz erzählt, er habe seit den tödlichen Schüssen in einem Supermarkt in El Paso nur vier Wochen zuvor Angst gehabt, einmal in eine solche Lage zu geraten.
Er habe Freunden und auch seiner Mutter geraten, sich Waffen zuzulegen, um sich im Notfall schützen zu können. «Man kann nicht einfach annehmen, immer in Sicherheit zu sein», erklärt Munoz. Er darf als verurteilter Straftäter keine Waffe besitzen. «Mein schlimmster Albtraum wurde wahr. Ich gerate in eine Schiesserei und ich kann mich nicht verteidigen.»
In den letzten Monaten hat Munoz Menschenansammlungen gemieden und geht nicht mehr so oft aus. Das Auto fährt er immer noch, es ist übersät mit Einschusslöchern, auf den Türen steht geschrieben «Beweismittel». In seiner Schulter stecken noch Kugelsplitter.
Nach Amokläufen in den USA: Keine Lust mehr auf Waffen
Dieses Schild an einer Kirchentür in Chicago weist auf ein Waffenverbot in dem Gotteshaus hin. Die Stadt zählt zu den gefährlichsten der USA.
Bild: ARTE / Sebastian Bellwinkel
Jammal Lemmy ist einer der Köpfe hinter der Jugendbewegung «March for Our Lives». Jugendliche wie er haben genug von den leeren Versprechungen der Politiker. Er fordert schärfere Gesetze, um den Zugang zu Waffen zu erschweren.
Bild: ARTE / Sebastian Bellwinkel
Lori Alhadeff hat bei dem Amoklauf von Parkland ihre 14-jährige Tochter verloren. Alyssa wurde in ihrem Klassenzimmer vom Täter mit einem Sturmgewehr vom Typ AR-15 getötet.
Bild: ARTE / Sebastian Bellwinkel
Parkland etwa schon vergessen? Ein Waffengeschäft in Orlando in Florida verkauft unter anderem Pistolen der neuen Generation. Sie haben sogar einen integrierten Schalldämpfer. Kunden wie David Allario (rechts) sind zufrieden. Nun müsste er im Ernstfall «niemanden mehr wecken», wie Allario meint.
Bild: ARTE / Sebastian Bellwinkel
Ein lila Kreuz in Gedenken an einen erschossenen Freund: Diese Andacht findet im Vorgarten einer Schule in der West Side von Chicago statt. Ein 15-Jähriger war auf einem Basketballplatz von einem 13-jährigen Mitschüler erschossen worden.
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