Omikron-Welle in den USA Zu Hause bleiben oder krank arbeiten?

AP/toko

11.1.2022 - 21:04

Weil ihr Job ihnen keine bezahlten Krankheitstage bietet, müssen viele Corona-infizierte Amerikaner zwischen ihrer Gesundheit und ihrem Gehaltsscheck wählen. 
Weil ihr Job ihnen keine bezahlten Krankheitstage bietet, müssen viele Corona-infizierte Amerikaner zwischen ihrer Gesundheit und ihrem Gehaltsscheck wählen. 
EPA/JOHN G. MABANGLO/Keystone (Symbollbild)

Viele Beschäftigte in den USA haben keinen Anspruch auf bezahlten Krankenurlaub. Da kann Omikron leicht auch zu einem finanziellen Problem werden – es sei denn, man geht trotz Infektion arbeiten.

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Die Omikron-Welle rollt mit voller Wucht durch die USA und stürzt Millionen Arbeitnehmer in ein Dilemma: Weil ihr Job ihnen keine bezahlten Krankheitstage bietet, müssen sie zwischen ihrer Gesundheit und ihrem Gehaltsscheck wählen. Zwar haben viele Unternehmen zu Beginn der Pandemie verbesserte Regelungen für eine Abwesenheit wegen Krankheit eingeführt, aber seit es Impfstoffe gibt, sind manche wieder zurückgefahren worden – obwohl Omikron auch vor Geimpften nicht Halt macht.

Derweil sorgt der gegenwärtige Mangel an Arbeitskräften für zusätzlichen Druck auf Beschäftigte, die entscheiden müssen, ob sie krank arbeiten gehen, wenn sie es sich nicht leisten können, daheim zu bleiben. «Es ist ein Teufelskreis», sagt Daniel Schneider, Professor für öffentliche Ordnung an der Harvard-Universität. «Wenn das Personal ausgedünnt ist, weil Leute wegen Krankheit fehlen, bedeutet das für jene, die arbeiten, dass sie mehr tun müssen und sogar noch abgeneigter sind, sich krank zu melden, wenn sie selbst krank werden.»

Für Beschäftigte mit niedrigem Stundenlohn ist es besonders problematisch. Fast 80 Prozent aller Arbeitnehmer im privaten Sektor erhalten nach Regierungsstatistiken zumindest einen bezahlten Krankheitstag, aber dazu zählen nur 33 Prozent der Arbeiter mit Löhnen im Bereich der untersten zehn Prozent.

Krank zur Arbeit

Eine Umfrage im vergangenen Herbst unter 6600 Arbeitern mit Niedriglöhnen ergab, dass 65 Prozent derjenigen unter ihnen, die nach eigenen Angaben im Monat zuvor krank waren, trotzdem zur Arbeit gingen. Das sind weniger als die 85 Prozent, die vor der Pandemie ihrem Job nachgingen, auch wenn sie krank waren, aber es sind bei weitem zu viele inmitten einer öffentlichen Gesundheitskrise. Und es könnte wegen Omikron und dem damit verbundenen Personalmangel noch schlechter werden, warnt Schneider.

Und, so sagt er: Viele der Armen unter den befragten Beschäftigten hätten nicht einmal 400 Dollar (rund 370 Franken) an Rücklagen für Notfälle. 

Die Nachrichtenagentur AP hat mit einer Arbeitskraft gesprochen, die im vergangenen Monat im Bundesstaat New Jersey eine neue Stelle angetreten hat und anonym bleiben wollte, um ihren Job nicht zu gefährden. Wie sie schilderte, traten in der vergangenen Woche bei ihr Covid-ähnliche Symptome auf, und sie nahm einen Tag frei, um sich testen zu lassen und dann zwei weitere Tage, um auf das Ergebnis zu warten.

«Ich dachte, ich tue das Richtige»

Ein Vorgesetzter rief sie an und sagte ihr, dass sie nur dann Anspruch auf bezahlten Krankheitsurlaub habe, wenn der Test positiv ausfalle. Sei das Ergebnis negativ, werde ihr für die Abwesenheit kein Lohn gezahlt, da sie nicht lange genug bei der Firma beschäftigt sei, um Anspruch auf bezahlte Krankheitstage zu haben.

«Ich dachte, ich tue das Richtige, indem ich meine Kollegen schütze», sagte die Arbeitskraft, die zum Zeitpunkt des AP-Interviews noch auf das Ergebnis wartete und schätzte, dass ein Negativ-Ergebnis sie 160 Dollar pro Tag an Einkommen kosten würde. «Jetzt wünschte ich mir, ich wäre zur Arbeit gegangen und hätte nichts gesagt.» 

Eine Arbeitskraft der Lebensmittelkette Trader Joe's in Kalifornien schildert, dass das Unternehmen bezahlte Abwesenheitstage gewähre, die für Ferien oder Krankenurlaub verwendet werden könnten. Seien die Tage aufgebraucht, hätten Beschäftigte oft das Gefühl, dass sie sich kein Fernbleiben mehr leisten könnten: «Ich glaube, viele Leute kommen jetzt krank zur Arbeit oder mit dem, was sie «Allergien» nennen, weil sie meinen, dass sie keine andere Wahl haben.»

Die Kette ist im ersten Jahr der Pandemie grosszügiger mit bezahlten Krankheitstagen verfahren, aber das ging nach Angaben der Arbeitskraft, die ebenfalls ihren Namen nicht genannt haben wollte, im vergangenen Frühjahr zu Ende. Auch andere Unternehmen stutzen ihr Angebot an Abwesenheitstagen ohne Lohnausfall, das sie zu Anfang der Pandemie erweitert hatten, oft mit Blick auf die mittlerweile verfügbaren Vakzine. Kroger, die grösste traditionelle Lebensmittelkette in den USA, stellt beispielsweise einige Leistungen für ungeimpfte Mitarbeiter ein – ein Versuch, mehr Beschäftigte dazu zu bringen, sich die Spritze verpassen zu lassen.

Walmart, die grösste Einzelhandelskette im Land, verkürzt bezahlte Abwesenheitstage im Zusammenhang mit Covid von zwei auf eine Woche, nachdem die US-Seuchenkontrollbehörde CDC die vorgeschriebene Quarantänezeit für symptomfreie Infizierte reduziert hat.

Bidens Paket droht zu scheitern

In einer wachsenden Zahl von US-Bundesstaaten – derzeit 14 – und in der Bundeshauptstadt Washington ist es Arbeitgebern mittlerweile vorgeschrieben, ihren Beschäftigten bezahlte Krankheitstage zu gewähren. Entsprechende Gesetze wurden in den vergangenen zehn Jahren beschlossen. Auf Bundesebene sind ähnliche Bemühungen aber ins Stocken geraten. Der Kongress hat zwar im Frühjahr 2020 ein Gesetz verabschiedet, das die meisten Arbeitgeber verpflichtete, Beschäftigten mit Covid-bezogenen Erkrankungen Abwesenheit ohne Lohnausfall zu ermöglichen. Aber diese Regelung lief Ende desselben Jahres aus.

Ein umfassendes Sozialpaket von Präsident Joe Biden unter Einschluss von 20 bezahlten Abwesenheitstagen für Beschäftigte, die krank sind oder für ein Familienmitglied sorgen, droht an mangelnder Mehrheit im Senat zu scheitern. Die USA zählen damit laut einer Studie des World Policy Analysis Center der Universität Los Angeles zu den nur elf Staaten weltweit, die keinen bezahlten Krankenurlaub auf Bundesebene vorschreiben.