Hunderte von Tonnen scharfer Munition lagern bei Genf auf dem Seegrund. Das Kriegsmaterial wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren von der Schweizer Firma Hispano-Suiza versenkt. Experten sind besorgt über ein mögliches Unfall- und Umweltrisiko.
Besorgniserregend seien die vielen Unsicherheiten in diesem Fall, sagte Stéphanie Girardclos, Sedimentologin an der Universität Genf und Genfersee-Expertin am Freitag vor den Medien. Es sei unklar, welche Art Munition, in welcher Menge und an welcher Stelle in den See geworfen worden sei.
Die Umweltorganisation Odysseus 3.1 wollte mehr wissen. Taucher untersuchten den Seegrund. Bei zweiten Tauchgang fanden sie vier durchbrochene Munitionskisten, die auf einer Seetiefe von 45 bis 55 Meter liegen.
«Diese Kisten befinden sich etwa 150 Meter von einer Gasleitung und einem Trinkwassersensor entfernt», sagte Lionel Rard, Präsident von Odysseus 3.1. Die Munition enthält viele giftige Elemente, wie zum Beispiel Schwermetalle. Im Falle von Korrosion könnten sich diese ausbreiten und Umweltschäden verursachen.
Sorge um Trinkwasser
Die Sorge ist umso grösser, als dass der Genfersee das eigentliche Wasserreservoir der Genferinnen und Genfer ist. «Es ist die wichtigste Trinkwasserressource des Kantons», sagte Frau Girardclos. Im Falle einer Kontamination bliebe nur die Lösung, Wasserflaschen an die Bevölkerung zu verteilen.
Die Sedimentologin zeigte sich überrascht darüber, wie unseriös aus ihrer Sicht die Behörden mit dem Fall umgehen. «Seit Jahrzehnten reichen alle die heisse Kartoffel weiter. Nichts zu tun ist jedoch verantwortungslos. Je länger wir warten, desto gefährlicher wird die Lage», warnte die Wissenschaftlerin.
Die SP-Grossrätin Salima Moyard ist jemand, die sich des Themas angenommen hat. Sie forderte die Genfer Regierung bereits 2017 auf, sich um den Fall zu kümmern, nachdem die Zeitung «Tribune de Genève» darüber berichtet hatte. Jetzt richtete sie erneut eine dringliche Interpellation an die Exekutive, in der Hoffnung, etwas zu bewirken.
«Unterschätzte Gefahr»
In einer ersten Reaktion hatte der Staatsrat geantwortet, dass diese Munitionskisten mit Sedimentschichten bedeckt seien. Diese Ablagerungen würden eine Art natürliche Schutzglocke bilden. Das Bergen der Munition hingegen könnte das Ökosystem schädigen. Moyard wies die Regierung darauf hin, dass einige Kisten nicht vergraben seien.
Die Wissenschaftlerin Girardclos sagt: «Die Sedimentationsrate ist sehr niedrig im Petit Lac. Die Strömungen sind stark und es gibt keine grossen Ablagerungen. Das Wasser wird auch in einer Tiefe von etwa fünfzig Metern mit Sauerstoff angereichert, sodass die Korrosionsrate hoch ist.»
Übliche Schweizer Praxis
Die Schweizer Armee versenkte 1940er- bis 1960er-Jahren einen Teil ihrer überschüssigen Munition aus dem Zweiten Weltkrieg im Thunersee, im Brienzersee und im Vierwaldstättersee. 2012 entschied sie, auf eine Bergung und Entsorgung dieser Munition zu verzichten, da diese keine Gefahr für Mensch und Umwelt darstelle, die Bergung dagegen gefährlich und aufwendig wäre.
Aber dieses Material befindet sich – anders als in Genf – in Tiefen von 200 Metern oder mehr. Es wurden Analysen durchgeführt, die eine sehr geringe Korrosionsrate zeigten.
In Genf anders
In Genf unterscheidet sich die Situation auch, weil nicht die Armee, sondern ein Privatunternehmen die Munition versenkte. Es war für die Firma günstiger, das Material zu entsorgen, indem sie es in den See warf. Dies sei eigentlich ein Umweltdelikt, stellte Girardclos fest.
Diese Praxis wurde vom Kanton Genf jedoch erst 1962 verboten. Der Bund tat es ihm zehn Jahre später gleich. Das Unternehmen Hispano-Suiza (Schweiz) wurde 1970 aufgelöst.
Zurück zur Startseite