Wann ist Sex einvernehmlich?Bundesgericht stützt Freispruch von Vergewaltigungs-Vorwurf
gbi, SDA
11.5.2022
Ist es eine Vergewaltigung, wenn jemand beim Sex nicht ausdrücklich sein Einverständnis erklärt? Die Politik muss hier erst Klarheit schaffen, befindet das Bundesgericht – und spricht einen Mann frei.
gbi, SDA
11.05.2022, 14:59
11.05.2022, 15:32
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Eines steht fest: Ein Mann und eine Frau haben sich in Genf im Ausgang kennengelernt, und später zusammen Sex gehabt. Alles andere ist umstritten – und beschäftigt die Gerichte.
Konkret geht es um die Frage, ob die Frau auch wirklich ihr Einverständnis zum Geschlechtsverkehr gegeben hat. Sie bestreitet das und hat die Justiz angerufen. Das Strafgericht Genf gab ihr im September 2020 recht und verurteilte den Mann wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Er zog das Urteil vor das Kantonsgericht Genf weiter, das ihn freisprach.
Die Frau wiederum erhob gegen dieses Urteil Beschwerde vor Bundesgericht, das nun befunden hat: Es bleibt beim Freispruch für den Angeklagten, wie aus einer Medienmitteilung des Bundesgerichts vom Mittwoch hervorgeht.
Gericht sieht grossen Ermessensspielraum
Die Klägerin hatte argumentiert, dass sie kein Einverständnis zum Sex gegeben habe und daher ein Verstoss gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und die Istanbul-Konvention vorliege, welche die Schweiz ratifiziert hat.
Das Bundesgericht sieht das jedoch anders. Zwar verpflichte der EGMR-Rechtsprechung Nationalstaaten dazu, Bestimmung zu erlassen, die nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen unter Strafe stellen. Jedoch hätten die Staaten einen grossen Ermessensspielraum, wie sie diese Bestimmung gesetzlich umsetzen.
Das geltende Schweizer Sexualstrafrecht könne nicht so ausgelegt werden, dass die fehlende Einverständniserklärung für eine sexuelle Handlung ausreichen würde, um jemanden wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung zu verurteilen, so das Bundesgericht.
Nach Schweizer Recht liege eine Vergewaltigung nur dann vor, wenn eine Nötigungshandlung. Sprich: Einem Täter müsse bewusst sein oder er müsse in Kauf nehmen, dass das Opfer keinen Sex wolle, sich dann aber trotzdem darüber hinwegsetzen. Dies könne unter Anwendung von psychischem Druck oder körperlicher Gewalt geschehen.
Aber, so hält das Bundesgericht fest: «Mit der von der Beschwerdeführerin eingebrachten Interpretation entfällt das Element der Nötigungshandlung; das Legalitätsprinzip (‹keine Strafe ohne Gesetz›) verlangt indessen seine Berücksichtigung.»
Fehlende Gesetzesgrundlage
Laut Bundesgericht ist der Tathergang umstritten, insbesondere, ob die sexuellen Handlungen mit dem Einverständnis der Frau erfolgten. Es sieht den Tatbestand der Vergewaltigung als nicht erfüllt an.
Für die Anwendung des Grundsatzes «Nur Ja heisst Ja» fehle die gesetzliche Grundlage, befindet das Gericht. Es verweist in seiner Mitteilung auf die laufende Revision des Sexualstrafrechts, während der die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates für die Ablehnungslösung («Nein heisst Nein») ausgesprochen habe.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty Schweiz reagierte auf Twitter bereits das Urteil des Bundesgerichts – und fordert eine Zustimmungslösung («Nur Ja heisst Ja») im Sexualstrafrecht.